Lima, Sex und mein schwuler Onkel

«Ich sah in ihm, wie ich und mein Leben in 40 Jahren aussehen könnten»

Unterwegs in Lima: Der Stadtbezirk Rímac. (Bild: Simon Mayer, iStockphoto)
Unterwegs in Lima: Der Stadtbezirk Rímac. (Bild: Simon Mayer, iStockphoto)

Schriftsteller Donat Blum nimmt dich auf eine persönliche Reise nach Lima zu seinem Onkel, der seinen queeren Horizont erweiterte.

Geschichten sind für uns Queers von besonderer Bedeutung. Doch wir lernen, sie nicht zu erzählen, wachsen auf in einer Gesellschaft, die uns manchmal wortwörtlich sagt und öfter nur suggeriert, wir sollten unser sogenanntes Privatleben, unsere Sexualität, unsere Geschlechtsidentität, unsere Gendersternchen und unsere Lust nicht an die grosse Glocke hängen. 

Im folgenden Text werde ich daher das Gegenteil tun. Ich werde queere Geschichte erzählen und ich werde persönlich. Ich mache das, was Michelle Obama in der Dokumentation «Becoming» einer Gruppe marginalisierter Jugendlichen rät: «Share our stories, our real stories, that’s what breaks down barriers. But in order to do that you have to believe it has value and dare to be vulnerable.»

Vor drei Jahren bin ich zum ersten Mal nach Peru gereist. Mein Beziehungsmensch-seit-10-Jahren hatte mich dazu überredet: «Lass uns deinen Onkel besuchen, solange es noch geht!»

Seit den 80er-Jahren lebt mein Onkel in Peru. In der Schweiz haben wir uns nur einige wenige Male getroffen. Die Beziehung blieb distanziert. Nach Südamerika hat es mich nie gezogen. Erst recht nicht nach Peru.

Meine inneren Bilder von jenem Land waren braun, wie die Alpakapullover und Fotos, die uns mein Onkel an Weihnachten schickte, als ich noch ein Kind war und Braun von verfaulten Früchten kannte oder den Momenten, in denen ich beim Malen die Geduld verlor und alle Farben durcheinanderpampte.

Und die inneren Bilder von Peru rochen muffig. So muffig, wie es aus seinem Koffer roch und aus den Weihnachtspaketen, die uns mein Onkel schickte. Ein Geruch von feuchter Erde, von Keller oder von ungewaschenen Hundehaaren.

Meine Nahbeziehung-seit-10-Jahren schlug also einen Besuch bei meinem Onkel und seinem Partner vor, und ich stimmte zu, weil ich wusste, dass sich Bilder verändern können, wenn man sich dem Befremdlichen stellt.

Ein Vorgang, der mich spätestens seit dem Coming-out faszinierte: Selten ist etwas tatsächlich so, wie man es erwartet hat, wie es einem verinnerlichte Normen diktieren. Macht man sich dann die Mühe, verinnerlichten Bilder durch neue zu ersetzen, die besser passen, winkt als Belohnung die Kraft der Befreiung, die Lust der Emanzipation.

Lange dachte ich beispielsweise, ich könne nur einen Menschen lieben und nur eine Beziehung führen, bis ich mir das Gegenteil erlaubte. Oder ich könne gar nicht schwul sein, weil ich doch einmal Frau und Kind haben wolle. Oder ich dachte, zum Schwulsein gehöre die Trauer darüber dazu, im Alter mit hoher Wahrscheinlichkeit allein im Schaukelstuhl vor dem Fernseher zu sitzen. Eine queere Urangst, die niemand so schön besungen hat, wie Anohi als Antony and the Johnson in «Hope there’s someone».

Aber dann kam die erste von drei Reisen nach Lima.

Lima liegt am Meer und mitten in der Wüste, daher die hohe Feuchtigkeit, die Pullover und Fotos muffeln liess. Es ist tatsächlich eine braune Stadt. Schaut man jedoch genauer hin, lassen sich mit jedem neuen Blick weitere Farben erkennen, aus denen sich das Braun zusammensetzt: ein über hundertjähriger Park voller Olivenbäume, Pyramiden, auf denen das Matriarchat zelebriert wurde, und viele, viele Menschen, die mit ihrer Stadt nicht angeben, aber sie auf eine unaufgeregte Art durchaus lieben. Die Hälfte des Jahres wird die Stadt von einer Nebeldecke bedeckt, die aber leicht und flauschig ist und sowohl vor Hitze als auch vor Kälte schützt. Es wird wohl deutlich: Lima fehlt mir mittlerweile, sobald ich die Stadt verlassen habe, wie die Geborgenheit der Daunendecke, wenn ich morgens zu früh aus dem Bett gerissen werde. Ich will nichts so sehr, wie zurück. Die Sehnsucht packt mich im Moment, da ich ins Flugzeug zurück nach Europa steige. Wäre es nicht mein Onkel, würde ich sagen, ich habe mich verliebt. In die Stadt. Und in ihn:

Kaum je habe ich einen Menschen seines Alters so oft lachen gesehen oder schelmisch schmunzeln, wenn er sich über altbackene Leute oder die Schweiz lustig machte, in der die Norm zu gelten schien, dass man spätestens nach der Geburt des zweiten Kindes nichts mehr zu lachen haben solle. Oder sich übers ganze Gesicht strahlend freuen: Über eine Fischplatte, die viel zu üppig war für den schmächtigen 75-jährigen Mann. Oder über das Wiedersehen mit dem Kellner, der ihn und seinen Partner mit Namen begrüsste. Über den Pisco Sour und die Ceviche, die in der Nähe des Hafens von Lima, in Callao, noch einen Tick frischer war als sonst. Über den Wein, der nur selten gut ist in Peru. Und über den Umstand, mit seinem Neffen und dessen Lover, den er erst gerade kennen gelernt hatte, in seinem Lieblingsrestaurant im alten Hafen von Callao zu sitzen.

Oder über das Kunstzentrum, das nebenan von einer Gruppe junger Architekt*innen eröffnet worden war, in einem alten Geschäftsgebäude mit einer Jugendstil­galerie nach Pariser Art, dessen Läden zu Ausstellungsräumen und Ateliers umfunktioniert worden waren: Der Aufbruch, der von dem lebendigen Kunsthaus inmitten der heruntergekommenen Gegend des alten Hafens ausging, sprang ungefiltert auf meinen Onkel über, der durch die Ausstellungsräume tippelte, von Bild zu Bild, von Atelier zu Atelier, und sich vor Staunen nicht mehr einkriegen konnte. Ein 75-jähriger Mann mit strahlendem Gesicht, ganz aus dem Häuschen, erfasst von einer Freude, die ich so bisher nur von Kindern kannte. Eine Freude, die vor dem Hintergrund, dass sein Leben eigentlich genug Anlass zum Gegenteil geboten hätte, noch stärker wirkte:

Sein erster langjähriger Freund, mit dem er in den peruanischen Anden, als «only gay in the village», zusammengelebt hatte, war über Nacht verschwunden, weil er sich in seiner Abwesenheit mit HIV infiziert hatte, wie meine Onkel erst Monate später erfuhr, als der Freund an AIDS starb. Mein Onkel war in ein Land ausgewandert, in dem damals mehr als 50 Prozent der Bevölkerung in Armut lebten. Und auch mein Onkel, Mitarbeiter bei einer NGO, verdiente nicht mehr als 100 bis 200 Franken im Monat. Geld, das aufgrund der Wirtschaftskrise und der damit einhergehenden Inflation, über Nacht seinen ganzen Wert verlieren konnte. Reichte es an einem Tag für die Mahlzeiten des ganzen Monats, liess sich am nächsten Tag damit nicht mal mehr eine Glühbirne erwerben. Aber das ist noch nicht alles: Neben einem Diktator hatten es gleich zwei Terrororganisation auf alle, die mit der Regierung zusammenarbeiteten, abgesehen. Insbesondere auch auf ausländische Mitarbeiter von NGOs, Homosexuelle und trans Menschen, die sie gerne öffentlichkeitswirksam inhaftierten, folterten und grausam hinrichteten.

Was mich berührte, was aber nicht nur, dass sich mein Onkel trotz allen Widrigkeiten seine kindliche Freude bewahrt zu haben schien, sondern noch etwas ganz Anderes: Die Selbstverständlichkeit, mit der er mich zu verstehen schien und mich nahm, wie ich war – etwas, das ich davor so noch nie bei irgendeiner Person erlebt hatte.

Das mag insofern wenig erstaunen, als sich mein Onkel und ich doch einen Grossteil unserer Sozialisierung teilen: Seine Eltern nahmen als meine Grosseltern einen wichtigen Platz in meinem Leben ein, sein Bruder ist mein Vater, und der hier entscheidende Punkt: Wir sind beide schwul, beide queer, und haben uns entschlossen, das weitgehend ohne Scham und so gut es geht mit Freude auszuleben.

Nichtsdestotrotz überkam mich auch ihm gegenüber Scham, als meine Nahbeziehung und ich auf der ersten Reise nach Lima auch das Datingleben der Stadt erkunden wollten. Wir konnten zwar davon ausgehen, dass mein Onkel wusste, dass wir promisk und gegebenenfalls polyamor lebten, aber ich konnte mir kaum vorstellen, dass das jemand aus meiner Geburtsfamilie wertfrei akzeptieren würde.

Also stahlen wir uns wie Teenager aus der Wohnung meines Onkels, um uns mit einem Date in einem Stundenhotel zu treffen. Ein düsterer Ort, wo der Rezeptionist hinter einer Panzerglasscheibe sass, die so dick war, dass nicht mal sein Gesicht zu erkennen war, geschweige denn, ob er guthiess, dass hier drei in seinen Augen Männer eincheckten. Der Zimmerboden war noch feucht vom Nasswischen. Offenbar hatten sich erst vor wenigen Minuten noch andere Gäste im Zimmer und auf der roten Latexmatratze vergnügt, die immer weiter unter dem Bettlaken zum Vorschein kam, das nach wenigen zaghaften Bewegungen so weit verrutscht war, dass ich, mittlerweile durch und durch von Scham gelähmt, Forfait erklären musste.

Mit zunehmendem Vertrauen wurde ich meinem Onkel gegenüber aber immer lockerer. Zu Beginn der zweiten Reise beendete ich Sätze, die Rückschlüsse auf mein Datingverhalten zuliessen, zwar noch mit einem Punkt: «Ich gehe tanzen. Punkt.» Damit ich nicht in die Situation kommen würde, erklären zu müssen mit wem und wie ich diese Person kennen gelernt hatte (online, auf Grindr oder Tinder). Erzählte meinem Onkel aber schliesslich von Jean, als ich mit diesem einige Tage in eine Oase ausserhalb der Stadt fahren wollte. Worauf mein Onkel ohne zu Zögern und ohne jegliche Skepsis so reagierte, wie ich es niemals von einer 40 Jahre älteren Person erwartet hätte: Er begann mir Tipps zu geben, wie der Ausflug besonders romantisch werden könnte. Und schlug nach meiner Rückkehr nach Lima vor, doch auch Jean zum oben beschriebenen Ausflug in den alten Hafen von Callao einzuladen, falls das stimmig sein sollte für die Art, wie er und ich uns treffen würden.

Callao ist die mit Lima verschmolzenen Nachbarstadt, vor der die kleine Halbinsel La Punta in den Atlantik ragt. An deren Spitze befindet sich zwar ein Militärsperrgebiet, wo in einem Keller, – «einem Loch», wie mein Onkel betonte – Guzman bis zu seinem Tod vor wenigen Wochen geschmort hatte. Guzman war der Anführer der sektenähnlichen kommunistisch-nationalistischen Terrororganisation «Sendero Luminoso», vor der auch mein Onkel als schwuler Ausländer über Nacht aus den Anden hatte flüchten müssen.

Lange galt die Gegend um den alten Hafen als eine der gefährlichsten Grosslimas. Was in den heruntergekommenen Gassen, die vom zentralen, heute gut gepflegten Platz abgehen, noch gut an den abgebrannten und ausgeweideten Autos zu erkennen ist. An den eingeschlagenen Fenstern. Den bröckelnden Fassaden. Und an den Holz­erkern, die verwittert und niedergeschlagen dicht über dem Abgrund hängen. Abgesehen von dem Fischrestaurant und dem neu eröffneten Ausstellungsgebäude herrscht noch immer eine düstere Atmosphäre wie aus Abenteuerromanen, wo Häfen die liederlichsten Gegenden der Städte sind, wo Saufkumpane von Kneipe zu Kneipe ziehen, bevor sie in einem Bordell landen oder sich einen Anker auf den Arm tätowieren lassen.

Heute ist das Zentrum um dieses Restaurant und das neue Ausstellungsgebäude eine der schönsten Gegenden Grosslimas. Und zusammen mit der Halbinsel La Punta eines der Lieblingsausflugsziele meines Onkels und seines Partners. Auf der einem Seite der Halbinsel plätschert der sonst sehr raue Pazifik lieblich sanft an einen Badestrand, während die andere, wildere Seite zum Naturschutzgebiet erklärt worden ist, in dem Vögel aus der ganzen Welt einen ruhigen, friedlichen Ort zum Innehalten finden mitten im Chaos und Staub der Stadt.

Als wir dort zu viert den Vögeln zuschauten, nahm mein Onkel seinen Partner plötzlich unauffällig an der Hand und setzte sich mit ein paar schnelleren Schritten so von Jean und mir ab, dass auch wir uns an der Hand nehmen und mit Blick auf den Pazifik küssen konnten.

Es waren solche kleine Gesten, die mich ganz für meinen Onkel einnahmen, weil ich mich von ihm als das gesehen fühlte, was ich war und lebte. Ohne nachzufragen schien er zu spüren, was ich brauchte, was wir brauchten. Und er schien offensichtlich zu wissen, dass es auch bei einer aller Wahrscheinlichkeit nach zeitlich begrenzten schwulen Beziehung nicht zwingend nur um Sex, sondern durchaus auch um Romantik und Liebe gehen konnte.

Ich fühlte mich gesehen. Und ich sah ihn, einen schwulen, queeren Menschen, der an der Hand seinen Partners vor uns herging. Ich sah mich in ihm. Ich sah, wie ich und mein Leben in 40 Jahren aussehen könnten.

In den nächsten Tagen begannen wir mehr und mehr darüber zu reden, wie er an diesen Punkt gekommen war, wie er früher gedatet hatte und vielleicht noch immer datete und was für ihn Liebe, Sex und Beziehung bedeuteten. Er erzählte vom Cruisen vor Schmuckläden in Frankfurt. Von einen jungen Mann, der ihn an einem der ersten Tage in Lima auf offener Strasse angesprochen hatte und zu einem Date einlud, worauf er wusste, dass das Leben als schwuler Mann in Lima lebenswert sein würde. Und von der unausgesprochen offenen Beziehung, die er und sein Partner seit 30 Jahren lebten.

Im Verlauf dieser Gespräche wurde mir klar, dass ich das Leben meines Onkels als Ausgangslage für meinen nächsten Roman nehmen wollte. Ich wollte meine und seine queere Geschichte erzählen. Und so reiste ich, als es Corona endlich wieder erlaubte, vor wenigen Wochen zum dritten Mal nach Lima. Dabei traf ich auf die Künstler*in Germa Machuca. Germa erzählte mir, wie sie als Kind bei einem Volksfest in den Anden, zum ersten Mal auf «Travestis» gestossen sei: Männer, oder im Alltag als solche gelesene Personen, die sich im Rahmen des Volksfestes den verehrten Figuren entsprechend in aufwändig bestickten, bunten Frauenkleidern und goldigen Masken präsentieren.

Für Germa war dieser Moment ein wegweisender. Sie sah, dass es eine Möglichkeit war, als peruanischer Mann binäre Geschlechterrollen zu verlassen. Daraus entstand eine Performance, in deren Rahmen sie im Goethe-Institut in Lima in eben jenen aufwändig geschmückten Kleidern als peruanische Gottheit auftrat. Mit Tränen in den Augen erzählte sie mir danach, wie viel es ihr bedeuten würde, uns queere Menschen in die Geschichte Perus und die Geschichte Perus in ihren queeren Körper einzuschreiben und damit sichtbar zu machen, dass auch in Peru vor der Kolonialisierung noch viel mehr möglich war als eine simple Mann/Frau-Binarität.

Geschichten sind eine Form, uns mit unseren Vor- und Nachfahren in Verbindung zu setzen. Germa erfuhr damals als Kind und erlebte nun auch in der Arbeit für diese Performance wieder, dass wir queere Menschen existieren, dass es uns gibt und schon immer gab. Die Erzählungen und die Erlebnisse mit meinem Onkel gaben mir ein Perspektive und Hoffnung darauf, auch in Zukunft mit meiner Realität Teil sein zu können von dieser Welt. Und er war mir Vorbild, dass auch mir ein glückliches Leben im Alter zuteil werden könnte.

Ein Gefühl, das wenige Tage später, noch stärker wurde, als ich abends aus dem Gästezimmer kam und sah, wie mein Onkel und sein Partner auf der Couch vor dem Fernseher eingeschlafen waren: Der Kopf des Partners auf dem Schoss meines Onkels. Beide zufrieden laut schnarchend. Ein Bild, das ich, bevor ich meinen Onkel besser kennen gelernt hatte, für unmöglich gehalten hatte. Nicht, weil mir die Fantasie dafür gefehlt hätte, sondern das emotionale Wissen darum: Zwei Männer, die sich im Alter liebten, die gegenseitig ihre Nähe suchten, so etwas hatte ich davor schlicht und einfach noch nie mit all meinen Sinnen erfahren.

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