«Freund nobler Damen» – Zum 150. Geburtstag von Reynaldo Hahn
Die Werke des Lovers von Marcel Proust werden weltweit gerade neu entdeckt
Woher kommt das Interesse an der queeren Identität sogenannt «grosser» klassischer Komponisten?
Von Roland H. Dippel
Bei Tschaikowsky und Chopin liegt es gewiss daran, dass man in deren Herkunftsländern den berühmten Kulturrepräsentanten ein normativ sauberes Image verpassen will, indem man deren Queerness ignoriert und verheimlicht (MANNSCHAFT berichtete). Bei Schubert und dem (bisexuellen) Robert Schumann spielt sicher die Neugier eine Rolle, hinter die bürgerlichen Fassade des 19. Jahrhunderts zu sehen und Gleichgesinnte zu entdecken. Dann gibt es aber auch die Freude über Anerkennungen wie für den geadelten Sir Benjamin Britten, der diskret, aber offen mit seinem Lebenspartner Sir Peter Pears auftrat.
Für Musikliebhaber*innen der Community stellte sich damit die Frage: Welche Werke bedienten einen heteronormativen Markt, welche Werke enthielten latente Signale für Gleichgesinnte und welche Werke sind eindeutig (MANNSCHAFT berichtete)?
Von der Belle Époque bis zur Moderne Das ist im Oeuvre von Reynaldo Hahn etwas einfacher. Auch Hahn hat durch seine Queerness einen gewissen Ruf. In Konzerten und Aufnahmen fehlt Hahn nirgends, wo es um Kammermusik- und Liedprogramme aus dem langen, fliessenden Übergang des Fin de siécle von der Belle Époque bis zur französischen Moderne geht.
Der am 9. August 1874 in Caracas, Venezuela, als Sohn eines jüdischen Hamburger Unternehmers geborene und am 28. Januar 1947 in Paris als Operndirektor verstorbene Komponist, der exzellente Mozart-Dirigent und Sänger, war in seinem letzten Amt an führender Stelle auch Sachwalter jener musikalischen Jahrzehnte, deren Atmosphäre er seit 1894 mitgeprägt hatte. Wegen seiner jüdischen Herkunft verliess Hahn nach dem Einmarsch der Deutschen 1940 seinen Lebensort Paris Richtung Cannes und Monte-Carlo. Er kehrte erst 1945 in das Land zurück, dessen Staatsbürgerschaft er erst 1908 angenommen hatte.
Gerne wird Hahn in der hetero-orientierten Musikliteratur als «Freund nobler Damen und Künstlerinnen» vorgestellt, denen er auch immer wieder Schönes komponierte. Auf Jugendbildnissen sieht man einen Mann mit sanften, sympathischen Augen. Legendär sind nach zahlreichen Zeitzeugenberichten Auftritte Hahns zu vorgerückter Stunde bei Gesellschaften, bei denen er sang und sich selbst am Klavier begleitete.
«Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» Neben dem kompositorischen Nachruhm hatten Momente aus Reynaldo Hahns Biographie immer wieder lebhaftes Interesse erweckt. Seine zweijährige Liebesbeziehung mit dem Romancier Marcel Proust, dem Verfasser des Romanzyklus «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit», und beider sich daraus entwickelnde Freundschaft gehört neben der Langzeitpartnerschaft von Jean Cocteau mit dem wesentlichen jüngeren Jean Marais und der toxischen Leidenschaft zwischen dem verheirateten Paul Verlaine und Arthur Rimbaud zu schwulen Partnerschaftsmodellen, wie sie in einem moralisch relativ offenen Frankreich zwischen 1871 und 1940 möglich waren.
Im Zuge einer erstarkenden queeren Geschichtsforschung veröffentlichte Bernd-Jürgen Fischer 2018 seine deutsche Übersetzung von Marcel Prousts Briefwechsel mit Reynaldo Hahn. Im Proust-Jahr 2021 folgte Lorenza Foschini mit ihrer Darstellung der intensiven Liaison.
Foschinis Titel «Und der Wind weht durch unsere Seelen» verwendet eine Notiz Hahns in die Partitur seiner 1894 entstandenen Oper «L’Île du rêve». Diese Oper wurde von Palazzetto Bru Zane, dem rührigen Zentrum für französische Musik des 19. Jahrhunderts, mit dem Münchner Rundfunkorchester eingespielt und dazu einiges mehr von Hahn: Mit dem Bariton Tassis Christoyannis und dem Pianisten Jeff Cohen brachte Bru Zane 2019 eine Gesamteinspielung aller Lieder Hahns heraus.
Der Pianist Charles Spencer bezeichnete Hahn in einem Booklet-Text als «nie richtig im 20. Jahrhundert» angekommen. Dennoch finden sich in Hahns Kompositionen mehr und direktere Andeutungen einer queeren Perspektive als bei Tschaikowsky und Schubert.
«Trauminsel Tahiti» In der am 23. März 1898 an der Opéra comique uraufgeführten Erstlingsoper «L’Île du rêve» tauchte Hahn die «Trauminsel» Tahiti in berückende Tonmalereien. Der Offizier Georges de Kerven will seine tahitianische Geliebte Mahénu mit sich nach Paris nehmen. Diesen Gedanken verwirft er jedoch auf Rat der tahitischen Prinzessin Oréna. Die Liebenden verabschieden sich mit einem zärtlichen «Bis morgen!». Aber sie wissen beide, dass es dieses Morgen für sie nicht geben wird und Georges mit seiner Einheit sofort in See stechen muss. Wie viele schwule Kontaktanbahnungen bis heute scheitert das Paar in Hahns erster Oper am Druck der Konventionen, der Unrealisierbarkeit eines gemeinsamen Lebens und an der sozialen Kontrolle durch das Umfeld.
Parallelen zwischen Zuschreibungen aus der zeitgenössischen Sachliteratur und Hahns Sujet-Entscheidungen sind auch später zu häufig und explizit, als dass es sich um Zufälle handeln könnte. So hatte Hahn die Idee zu Vertonung von Shakespeares «Kaufmann von Venedig» bereits während des Ersten Weltkriegs. In mehreren Szenen zwischen dem Kaufmann Antonio und seinem Freund Bassiano, dem er eine hohe Summe zukommen lässt, gibt es in der 1946 in Paris uraufgeführten Oper einen lyrisch leichten Ton wie in «L’Île du rêve», hier allerdings zwischen Bariton und Bass.
Tod auf dem Scheiterhaufen Hahns Lied «À Chloris» für Sopran und Klavier entstand auf einen Text von Théophile de Viau (1590-1626), der wegen eines ihm zugeschriebenen Gedichts erst zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt wurde. Das Urteil milderte man in einem zwölf Jahre dauernden Prozess in Verbannung. Man kann davon ausgehen, dass Hahn diese biographischen Hintergründe kannte. In späteren Jahren war der französische Schauspieler und Sänger Guy Ferrant, ein Partner Hahns. Er vermachte der Phonothèque nationale beider Sammlung von 1860 Schallplatten mit 78 Umdrehungen.
Im deutschen Sprachraum sind die Hommagen zum 150. Geburtstag von Hahn am 9. August spärlich. Weil Hahns Vater aus Hamburg stammte, brachte das Internationale Opernstudio der Hamburgischen Staatsoper Hahns 1923 entstandene Operette «Ciboulette» in der Opera stabile heraus.
Das vermeintlich nostalgische Flair dieser Musik nahm Regisseur Sascha-Alexander Todtner zum Anlass, die im Pariser Weltausstellungsjahr 1867 spielende Handlung in die queere New Yorker Subkultur der 1980er Jahre zu verlegen – in die Ballroom-Szene, wie man sie aus Serien wie «Pose» kennt (MANNSCHAFT berichtete).
Es wird sich vorerst also nichts daran ändern, dass Hahn einen zwar hoch achtbaren, allerdings nur kleinflächigen Nischenplatz im Repertoire hat. Reynaldo Hahn war und bleibt wichtig als Musiker und Mann, der zu den Pionieren eines urbanen schwulen Lebensstils gehörte und queere Belange immer wieder in seinen Werken thematisierte. Oftmals unspektakulär, aber regelmässig und – wie sich in Zeiten der sozialen Medien bestätigt – nachhaltig.
Der Wagner Verband Berlin-Brandenburg widmete sich dem Thema Diversität und LGBTIQ-Inklusion bei den Bayreuther Festspielen (MANNSCHAFT berichtete).
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