Kunstpause: Das Leben auf der Bühne im Stillstand
Milky Diamond, Eddie Ramirez und Pink Spider erzählen, wie sie mit der unfreiwilligen Auszeit umgehen
Lockdowns zwingen queere Performer*innen dazu, sich und ihre Arbeit neu zu erfinden. Drei von ihnen erzählen von Alltagssorgen, aber auch von neu gewonnener Freiheit, kurz: davon, wie sich ihr Leben durch die Pandemie verändert hat.
Milky Diamond hat es sich gerade bequem gemacht im Haus ihrer Grosseltern, wo sie nach selbstauferlegter Quarantäne ein paar Tage verbringt. Zum Gespräch bereit ist die Dragqueen erst, nachdem sie sich den x-ten Kaffee gemacht hat – «aber immer nur koffeinfrei! Früher konnte ich ’ne ganze Kanne Kaffee trinken, aber das geht nicht mehr. Es macht mich totally crazy.»
Ihrem unverwechselbaren Look konnte die Pandemie nichts anhaben; egal wie lang sie ihre Haare (und Perücken) privat oder beruflich gerade trägt – die rechte Hälfte davon ist stets platinblond, die linke schwarz. Ähnlichkeiten mit Cruella De Vil sind nicht ganz zufällig, war diese doch Milkys Lieblingscharakter als Kind. Mit diesem Markenzeichen ist die 27-jährige den queeren Zürcher Nachtschwärmer*innen ans Herz gewachsen, oder, wie sie selbst sagen würde, zur «Queen of the Scene» geworden. Und vielleicht sogar etwas darüber hinaus, denn seit ihren geheimnisvollen Auftritten in den Clips des angesagten Synthpopmusikers Crimer haben sie wohl auch einige heterosexuelle Indiefans über einen Bildschirm flimmern sehen.
Ob nun als Moderatorin der «Heaven Drag Race» und des «lila.»-Festivals, Performerin in der Heldenbar oder im Showrestaurant Samigo – an Milky kommt das queere Partyvolk nicht so schnell vorbei. Es sei denn, die Schweiz befindet sich gerade im Lockdown. Über die wichtige Funktion des Feierns für Queers spricht Partyveranstalter Kilian Flade (MANNSCHAFT+).
Und somit sind wir schon mitten im Thema unseres Gesprächs. Besonders frustrierend für Milky sei es gewesen, «Late Night Drag» so gut wie ganz abzublasen – eine hybride Mischung aus Theater, Performance und Late-Night-Show. «Wenn du monatelang ein Stück vorbereitest, ohne es dann richtig auf die Bühne bringen zu können . . . das tut schon weh», sagt sie mit ernstem Tonfall. Unter anderem auch, weil man als Kulturschaffende*r für Vorbereitungen oft nicht hinreichend entlohnt werde. Zwar seien die Crewmitglieder nach zwei erfolgreichen Auftritten im August noch guter Dinge gewesen, da sie davon ausgingen, die restlichen Sommershows einfach auf den Herbst verschieben zu können.
Als jedoch die Infektionszahlen wieder stiegen und öffentliche Veranstaltungen auf 50 Personen begrenzt wurden, hätten die Veranstalter*innen absagen müssen, da es sich unter diesen Umständen finanziell nicht rentiert hätte. Zwei der vier geplanten Show-Gagen hätten die Performer*innen zwar immerhin bekommen, über den Rest wüssten sie allerdings noch nicht Bescheid. «Aber ich will mich nicht über die Lockdowns an sich beschweren. Menschenleben gehen klar vor.» Im Dezember war sie im Community-Musical «Queer Xmas zu sehen (MANNSCHAFT berichtete), das online gestreamt wurde.
Ausserdem sei Milky in finanzieller Hinsicht privilegiert im Vergleich zu anderen Künstler*innen. Sie arbeite zwar so gut wie nur in Drag, allerdings nicht selbstständig, sondern meistens vom jeweiligen Betrieb beziehungsweise von Veranstalter*innen angestellt. Das ermögliche ihr momentan, Kurzarbeitsgeld zu beziehen. Zudem habe sie kürzlich den «Fonds Respekt» erhalten, eine finanzielle Nothilfe von queeren Dachverbänden. Überhaupt seien bis jetzt private Gelder schneller geflossen als öffentliche; ob sie das Covid-19-Arbeitsstipendium der Stadt Zürich erhalten wird, weiss Milky noch nicht.
Mehr Zugang durch Kreativität
Ihre Schilderungen – die man durchaus als Kritik lesen kann – decken sich mit jener anderer Kulturschaffender. Auch der Stand-up-Comedian und Performer Eddie Ramirez findet klare Worte: «Im Allgemeinen merkt man in dieser Zeit schon, wie wenig Wert die Politik auf Kultur legt», sagt er. Diese Tendenz sei zwar davor schon da gewesen, aber nun habe sie sich extrem verschärft. Dabei seien künstlerische Werke wichtiger denn je. «Gute Filme, Bücher und Musik bringen uns alle besser durch die Pandemie – aber deren Herstellung fördern will man nicht. Dieses Denken finde ich völlig falsch. Und megaschade.» Er kenne Leute im Kulturbereich, die ihren Job verloren oder einfach finanziell zu kämpfen hätten, vor allem selbstständig Erwerbende.
In dieser Zeit merkt man schon, wie wenig Wert die Politik auf Kultur legt.
Auch Eddie ist wie Milky fester Bestandteil der queeren Szene, aber nicht nur; er hatte schon mehrere Comedyauftritte im Schweizer Fernsehen und wurde dabei unter anderem vom Enfant terrible Dominic Deville eingeladen. Er bezeichnet sich selbst als Schwarze, non-binäre, behinderte Person und in den sozialen Medien selbstironisch als «rollingeddie». Er versteht deshalb auch etwas von intersektionaler Diskriminierung und macht diese immer wieder zum Inhalt seiner Stand-up-Texte: «Für alle, die gerade im Radio mithören und sich fragen, wie ich wohl aussehe: Ich bin eine Art Latino-Hobbit im Rollstuhl.» Daneben ist er mit dem Theaterduo «Criptonite» im Theater Gessnerallee (eine Sommertour ist geplant, falls es die Umstände erlauben) und hostet regelmässig ein Open-stage-Programm im Zürcher Dali’s, das nach ihm benannt ist («Comeddie»).
Der 31-Jährige ist gerade frisch in eine neue Wohnung gezogen und hat seit knapp 20 Minuten Internet, als wir miteinander skypen. Obwohl der Umzug länger so geplant gewesen sei, sei er mittlerweile froh, dass er hier weniger Miete zahle. «Ich versuche momentan besonders sparsam zu leben, da die Situation schon um einiges länger andauert als gedacht und man drum schlecht vorausplanen kann», meint er nachdenklich, «obwohl ich auch sagen muss, dass zum Glück nach wie vor einzelne Aufträge reinkommen.» Eddie konnte während des Lockdowns dank Streaming eine Criptonite-Show im Dezember aufführen, und momentan arbeitet er an einem Audiowalk, einer Art erzählerischer Stadtführung. Nebenbei wird er als Experte hinzugezogen, wenn es darum geht, Kunst und Kultur für Menschen mit Behinderung zugänglich zu machen, wobei es da um viel mehr als nur Rampen für Rollstühle geht. «Performances zu streamen eröffnet gerade in Sachen Zugang und Reichweite ganz neue Möglichkeiten. Für unseren Auftritt hatten wir live Untertitel und einen Kanal mit Audiodeskription», sagt er zufrieden. «Aufgrund des Streams hatten wir auch Publikum aus der Schweiz, Deutschland, Grossbritannien und den USA – ein voller Erfolg also.» Ganz auf Streaming umstellen würde er allerdings nicht wollen; gerade Formen wie Stand-up-Comedy lebten von den direkten Reaktionen des Publikums.
Die grosse Erleichterung
Eine Künstlerin, die sich im Streaming gar nicht wiederfindet, ist die Luzerner Singer-Songwriterin Pink Spider: «Ich hab mitgekriegt, dass die Band Pegasus während des Lockdowns ein Konzert gestreamt hat, ohne Livepublikum und mit Plexiglas zwischen den Musikern», erzählt sie. «Es war zwar schön zu sehen, wie sie sich freuten, wiedermal auf einer Bühne zu stehen – aber für mich wär das nichts. Lieber gar nicht performen als unter diesen Umständen.»
Lieber gar nicht performen als unter diesen Umständen.
Die 44-Jährige, die eigentlich Valérie Koloszár heisst, lebt eher zurückgezogen in einem alten Holzhaus bei Luzern. Genau wie ihre Musik erinnert die Einrichtung – mittendrin Gitarre und Ukulele – an amerikanische Folkmusiker*innen, die als lonely Wolves an Texten und Tönen tüfteln. Und das kommt nicht von ungefähr: Pink Spider verbrachte einen Teil ihrer Jugend in den USA und begann dort auch ein Studium in Meeresbiologie. Über verschiedene Umwege (unter anderem eine Frauenband und ein 8-Spur-Kassettengerät) kam sie dann zum Songwriting. 2008 veröffentlichte sie ihr Debütalbum «Looking for Trouble», 2014 folgte dann «The Hunch», das vom Magazin 041 zum Album des Jahres gekürt wurde und ihr ferner zum Luzerner Anerkennungspreis verhalf. Seither sind nochmal zwei EPs dazugekommen.
Die Pandemie führte allerdings zu einer Schaffenspause. «Ehrlich gesagt finde ichs recht befreiend, dass ein gewisser kreativer Leistungsdruck wegfällt», sagt sie grinsend. «Vielleicht liegt es auch daran, dass ich nicht mehr 30 bin und darum keinen Druck mehr verspüre, die Welt zu erobern.» Musikerin zu sein, bedeute viel Zeit und Energie zu investieren in das ganze Drum und Dran: sich ein Netzwerk aufbauen, ein Publikum finden, die eigene Musik vertreiben . . . Das habe sie mit den Jahren etwas ausgelaugt. Sie nutze diese Zeit, um sich Dingen zu widmen, die sie davor auf die lange Bank geschoben habe; beispielsweise habe sie einen Naturheilkurs absolviert und informiere sich gerade über Ausbildungen in diesem Bereich.
Allerdings scheint es bei Valérie dann doch irgendwann in den Fingern zu jucken – wenn eine Anfrage für einen Auftritt kommt, wie für nächsten Sommer auf einem kleinen Landfestival, sagt sie nicht nein. Und im Verlauf des Gesprächs kommt ihr dann doch ein musikalisches Projekt in den Sinn, das sie im Lockdown umgesetzt hat: Als alte Super-8-Aufnahmen ihres 2009 verstorbenen Vaters digitalisiert worden seien, habe sie das dazu inspiriert, sich etwas Filmschnitt beizubringen und die Bilder mit ihrem Song «Sweet Relief» zu untermalen. «Das war eine Art Nostalgietrip und hat mir geholfen, gewisse Ereignisse zu verarbeiten. Ausserdem wars schön, mal etwas für meine Familie zu machen», sagt sie. «Dieser Song, den es davor schon gab, hat perfekt dazu gepasst. Es geht ums Loslassen und gleichzeitig um das Gewinnen von Gelassenheit.»
Eine würdige Bühne
Die Tatsache, dass das Virus und die mit ihm verbundenen Einschränkungen auch Entspannung bringen können, bestätigt auch Milky Diamond. «Ehrlich gesagt fand ichs eigentlich ganz schön, runterfahren zu können», in ihrer Stimme ist die Entspannung hörbar. «Normalerweise arbeite ich durch, bis auf ein, zwei Wochen im Sommer: Perücken herstellen, Shows vorbereiten, auftreten und dann das Ganze wieder von vorn.» Im Gegensatz zu einigen Kolleginnen sei sie während des Lockdowns nie richtig depressiv geworden, aber mittlerweile, nach fast einem ganzen Jahr, vermisse sie die Auftritte schon. Den Zuschauer*innen direkt in die Augen schauen und ihnen ein Gefühl vermitteln zu können . . . Und auf einer Bühne zu stehen, die einer Dragqueen würdig sei. «Ich will keine mehr sehen, die in einer schlecht ausgeleuchteten Küche performt. Wir verdienen eine bessere Stage!» Übers Internet mache sie darum eigentlich nur Gesprächsrunden oder Make-up-Tutorials.
Wenn die Sonnenbrille zur Geheimwaffe wird
Einen weiteren Vorteil dieser ungewöhnlichen Zeit sieht sie darin, dass viele Menschen sich in Dankbarkeit üben für Dinge, die sonst selbstverständlich erscheinen. Das gilt auch für sie selbst; ihr sei bewusst geworden, wie sehr sie sich auf Familie und Freund*innen verlassen könne, wenn andere Kontakte und Inputs wegfielen.
Künstlerische Verarbeitung
Auch Eddie kann der Krise etwas abgewinnen, vor allem in kreativer Hinsicht: «Themen wie Einsamkeit und Fernweh waren eine grosse Inspiration für unser letztes Criptonite-Stück», meint er zufrieden. Ähnliches beobachte er auch bei anderen Performer*innen, die Material basierend auf Lockdownerfahrungen und -lehren produzierten. «Das kann natürlich auch einschränken, da man das Gefühl bekommen kann, andere Themen seien nicht mehr aktuell», reflektiert er. «Ich merke es auch bei mir selbst; gewisse Jokes, die ich früher gebracht habe, fühlen sich recht weit weg an. Andererseits habe ich auch Mut gewonnen, eher in die Tiefe zu gehen und auch Ernsteres anzusprechen, als bei Comedy sonst üblich ist.»
Bei der ganzen Diskussion um die Systemrelevanz war von uns Kulturschaffenden nie die Rede.
Valérie aber wird zum Schluss wieder etwas melancholisch: «Bei der ganzen Diskussion um die Systemrelevanz war von uns Kulturschaffenden nie die Rede – dabei sollte doch jede Arbeit gleich viel wert sein», sagt sie und fügt an: «Der Musiker Seven hat es in einem öffentlichen Statement gut gesagt: Künstler*innen seinen nur ein kleiner Teil der Leute, die es in der Kulturbranche brauche neben Logistik, Promotion, Technik, Catering, Licht, Putzequipen, Sicherheitsdienst . . . Wenn man sich deren Umsatz vor Augen führe, müsse man sie genauso retten wollen wie andere Wirtschaftszweige.» Der Gedanke an all diese Leute, an diesen Rattenschwanz, stimme sie nachdenklich. Für sich selbst Kulturgelder beantragen wolle sie während der Krise nicht, da sie nebenbei eine Anstellung in der Gastronomiebranche habe und ihre Fixkosten dank Kurzarbeit decken könne. «Andere habens nötiger als ich.»
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