Jean-Jacques Rousseau queer getanzt

Der schwule Choreograf Ihsan Rustem spricht über die Planung seines neusten Projekts

Aus «8», der ersten Produktion von «Cie. La Ronde» (Bild: Instagram / ihsanrustem)
Aus «8», der ersten Produktion von «Cie. La Ronde» (Bild: Instagram / ihsanrustem)

Choreograf Ihsan Rustem wirft einen queeren Blick auf das Werk des Schweizer Aufklärers Jean-Jacques Rousseau. Für das Tanzprojekt «4 x Rousseau» läuft zurzeit das Fundraising.

Choreograf Ihsan Rustem ist regelmässig in den USA, in Brasilien, Chile, Taiwan, Kanada und Europa tätig, was während der Pandemie plötzlich nicht mehr möglich war. Damals musste er, wie viele andere Kunst- und Kulturschaffende auch (MANNSCHAFT+ berichtete), schwierige und einschneidende Entscheidungen treffen. Bei Ihsan war dies rückblickend ein Glücksfall: Zusammen mit seiner Kollegin Cathy Marston (mittlerweile Leiterin des Zürcher Balletts) gründete er 2020 die Compagnie «Cie. La Ronde».

Die erste Produktion mit dem minimalistischen wie geheimnisvollen Titel «8» basierte auf Arthur Schnitzlers «Reigen» und feierte vergangenes Jahr im Theater Winterthur Premiere. Es wurde vom Publikum sowie in weltweit über 30 Medienbeiträgen gelobt. Das neue Werk soll «4 x Rousseau» heissen und im März 2024 ebenfalls in Winterthur uraufgeführt werden. Anschliessend geht es auf Schweizertournee. Momentan läuft noch das Fundraising.

Queerer Blick auf Rousseau Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) kam dem aus der Renaissance stammenden Begriff des «uomo universale», des schöpferisch tätigen und vielfältig gebildeten Universalmenschen, sehr nahe: Er war Philosoph, Schriftsteller, Pädagoge, Naturforscher, Komponist und gilt überdies als Wegbereiter der Französischen Revolution.

Doch weshalb will Ihsan Rustem nächstes Jahr nach den Zeilen dieses Genfer Gelehrten tanzen? «Rousseaus Gedanken zur Rolle des Individuums in der Gesellschaft in Bezug auf Gleichstellung, soziale Diskrepanz und Gerechtigkeit sind auch heute noch relevant», so der Choreograf gegenüber MANNSCHAFT. Seine vielschichtigen Thesen inspirieren: In einer Co-Kreation des Teams von «Cie. La Ronde» werden vier eigenständige und unabhängige Choreografien auf die Bühne gebracht.

Das Team konnte den weltberühmten Genfer Komponisten Alexandre Dai Castaing für die Produktion gewinnen. Die Bühnen- und Kostümbilder stammen von Renê Salazar.

Männer, die Grenzen überwinden Ihsan wirft mit seinem Beitrag einen queeren Blick auf Rousseaus gesellschaftspolitisches Werk. «Rousseaus Zitat ‹Der Mensch wird frei geboren, liegt aber überall in Ketten› fasziniert mich. Es stellt sich die Frage, was geschieht, wenn eine Regierung, deren Zweck es wäre, im Rahmen eines Gesellschaftsvertrags unsere Freiheit zu schützen, ihre Macht ausnützt. Was geschieht, wenn wir gezwungen werden, uns im Namen der Freiheit einem ideologischen Programm zu unterwerfen?»

Rousseaus Ansichten über soziale Ungleichheit würden ihn besonders interessieren, auch auf persönlicher Ebene im Zusammenhang mit dem aktuellen gesellschaftlichen Klima. «Als verheirateter schwuler Mann, der die Freiheiten der liberalen demokratischen Gesellschaft, in der ich lebe, geniesst, bin ich mir sehr bewusst, dass dies ein Privileg ist, das einem grossen Teil der Zivilisation nicht gewährt wird.»

Bei Ihsan geht es deshalb – inspiriert von Rousseaus Betrachtungen über Freiheit und soziale Ungleichheit – um die Erfahrungen zweier Männer, die trotz unterschiedlicher Hintergründe Gemeinsamkeiten suchen und Grenzen überwinden. Er wolle die «ursprüngliche Natur» des Menschen erkunden und den Weg dieser Männer verfolgen, die auf «verschiedenen Seiten der Grenze» geboren wurden.



Einzigartige Methoden Cathy Marston (die wie Ihsan in Grossbritannien geboren wurde, nun in der Schweiz eine neue Heimat gefunden und die Staatsbürgerschaft erlangt hat) ist inzwischen nach ihrer Berufung zur Leiterin des Zürcher Balletts als Co-Leiterin und Choreografin der Compagnie zurückgetreten. Sie bleibt ihr jedoch als Oeil-Extérieur erhalten. Somit ist Ihsan Rustem nun alleiniger künstlerischer Leiter. Die Besonderheiten der Kompanie wie etwa ihre Co-Kreationsstruktur und die Mischung unterschiedlichster Tanzstile und -techniken bleiben bestehen.

Die vier Choreograf*innen (das sind neben dem Ihsan Caroline Finn, Luca Signoretti und Sarafina Beck) entwickeln den Inhalt der Produktion gemeinsam. Sie unterstützen sich gegenseitig sowohl auf konzeptioneller als auch auf choreografischer Ebene. «Choreograf kann ein ziemlich einsamer Beruf sein, mit wenig direktem Feedback – diese Art der Zusammenarbeit ist wirklich einzigartig in der Branche.»

Auf Unterstützung angewiesen Ohne finanzielle Unterstützung (öffentliche Mittel, Stiftungen, Sponsoring und private Spender*innen) kann in der freien Szene nichts auf die Bühne gebracht werden.

«Ein groser Teil unserer Bemühungen geht in die Mittelbeschaffung», sagt Ihsan. Einige Leute würden glauben, dass der Kartenverkauf allein die Kosten deckt oder dass das Tanzprojekt vollständig durch öffentliche Mittel subventioniert werde. Dies sei aber nicht der Fall. «Es ist ziemlich hart, da draussen Kunst zu schaffen und den Künstler*innen und dem Team faire Löhne zahlen zu können.»

Wenn du «4 x Rousseau» privat unterstützen oder mit deiner Firma Sponsor*in werden möchtest, findest du unter diesem Link mehr Informationen.

Geplante Vorstellungen & Tickets Theater Winterthur; 1./2./9./10. März 2024 Stadttheater Langenthal; 14. März 2024 Grosse Halle – Bern; 1./2. Mai 2024 Tanzfest Bern; 1.-3. Mai 2024 Kulturmarkt Zürich/ZÜRICH TANZT; 4./5. Mai 2024

Seit bald 20 Jahren nehmen Judith Wildi und Helene Grob bei Tanzsportturnieren in ganz Europa teil. Die Story gibt’s hier mit MANNSCHAFT+.

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