Die Entfernung der Vorhaut: Mehr als ein Schnitt

Gängige Praxis? Manasseh und Ephraim Seidenberg fordern ein Umdenken

Die Zwillingsbrüder Ephraim (links) und Manasseh Seidenberg leiden darunter, dass ihnen als Kind die Vorhaut abgeschnitten wurde. (Bild: Cesare Macri, Mannschaft Magazin)
Die Zwillingsbrüder Ephraim (links) und Manasseh Seidenberg leiden darunter, dass ihnen als Kind die Vorhaut abgeschnitten wurde. (Bild: Cesare Macri, Mannschaft Magazin)

Die Entfernung der Vorhaut ohne eigene Einwilligung ist gängig. Damit verbundenes Leid wird oft tabuisiert. Zwei Brüder wollen das ändern. Sie wurden Teil einer Bewegung für «genitale Selbst­bestimmung» – oder: Intaktivismus.

Die Zwillinge Manasseh und Ephraim Seidenberg stehen sich nahe. Sie reden über vieles. Aber das erste Mal, dass sie mit kritischem Blick über das Thema Beschneidung sprachen, war nicht einfach. Manasseh schilderte die Kritik, auf die er im Internet gestossen war: «Was, wenn es komplett nutzlos war, uns die Vorhaut abzuschneiden – oder sogar schädlich?»

Ephraim hörte seinem Bruder zu, wie er aus dem scheinbaren Nichts von Penisbeschneidungen zu erzählen begann, und dachte zuerst: «Was für ein Schwachsinn. Das ist doch kein Problem. Bei mir nicht, bei meinem Bruder nicht, bei niemandem.»

«Was, wenn es komplett nutzlos war, uns die Vorhaut abzuschneiden?»

Einige Zeit später wurde Ephraim doch neugierig: Mit einem gemeinsamen Freund führten die beiden ein Gespräch über die Vorhaut. «Mit seinem aussergewöhnlichen Körperbewusstsein und seiner offenen Art schilderte er uns, welch lustvolle Empfindungen er mit seiner Vorhaut erlebt. Welche wertvolle Bedeutung sie für seine Sexualität hat. Das war für uns völlig neu und auch eindrücklich», erinnert sich Ephraim. Für ihn wurde dieses Gespräch zum Wendepunkt.

Einen beschnittenen Penis zu haben, gilt als normal. Das kannten auch die beiden Brüder nicht anders, «ich dachte, es sei gut, dass das bei mir gemacht worden ist, dass das auch bei anderen gemacht wird. So war ich aufgewachsen und das war selbstverständlich», schildert Manasseh. «Ich hatte kein Körperbild ohne diese Verletzung. Ich dachte, mein Körper sehe natürlicherweise so aus, habe nicht mal realisiert, dass dort eine Narbe ist.»

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Der medizinische Begriff für die Beschneidung von Penissen lautet Zirkumzision. Es ist einer der weltweit häufigsten chirurgischen Eingriffe am cis-männlichen Körper: «Jedes Jahr werden zirka 13,3 Millionen männliche Personen weltweit beschnitten», heisst es etwa in einer US-amerikanischen Studie. In Deutschland wird der Anteil beschnittener Jungen und Männer auf 15 % geschätzt. Die Schweizer Organisation Pro Kinderrechte schätzt den Anteil in der Schweiz auf 10 bis 15 %.

In einem riesigen Teil der Studien und Quellen über die Beschneidung ist von befragten Männern die Rede, obschon Männer mit Penis gemeint sind. Weil es auch Männer mit anderen Genitalien oder mit Neopenis gibt, die vom Thema der Penisbeschneidung nicht direkt betroffen sind, ist in diesem Text dort, wo nicht zitiert wird, von cis Männern die Rede.

Verbreitete Routine 13,3 Millionen Beschneidungen pro Jahr: Das ist viel. Ein geringer Teil davon passiert aus medizinischer Notwendigkeit: Wenn die Vorhaut verengt ist, wird sie oft operativ entfernt – obschon meistens auch Behandlungsmethoden reichen, die die Vorhaut erhalten, wie etwa die Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie anführt. Weitaus häufiger aber sind zwei andere Gründe. Manchmal sind die religiöser und kultureller Natur. Im Islam oder dem Judentum etwa hat die Beschneidung eine lange Tradition. Oder aber, der chirurgische Eingriff ist das, was medizinisch «Routinezirkumzision» genannt wird: Babys, die routinemässig beschnitten werden. Alleine schon in den USA etwa wird die Vorhaut bei 55 % aller Penisse aus reiner Routine nach der Geburt entfernt. Auch in deutschsprachigen Ländern passiert der Eingriff häufig ohne religiösen oder kulturellen Hintergrund.

beschneidung
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Ephraim und Manasseh wollten mehr wissen über diese Praxis, Babys zu beschneiden. Und über die Folgen. «Die Vorhaut war kaum Thema im Medizinstudium», erinnert sich Manasseh, «mit einem Diplom hast du da noch keine Ahnung davon, ausser, dass sie in gewissen Fällen abgeschnitten werden soll.» Und Ephraim fällt bei der Recherche eine Sprachlosigkeit auf: «Es gibt wenig hilfreiche Begriffe auf Deutsch, im Vergleich zu anderen Sprachen.» Das Wort der «Haut» sei angesichts der Nerven, Muskeln, der Empfindungsfähigkeit der Vorhaut unpassend. Wenn, dann eher Vor-und-zurück-Haut, überlegen sie laut und weisen auf die mechanische Funktion der Vorhaut hin. Auch das Wort Beschneidung sei problematisch, führt Ephraim an. «Es klingt wie bei einem Obstbaum, du schneidest was ab und es wächst nach. Bei uns Menschen wächst nichts nach: Du schneidest es ab und es ist weg. Beschneidung ist klar ein Euphemismus.»

Er verwendet deshalb die Begriffe «Abschneiden der Vorhaut» oder selten «Vorhautamputation». Denn: «Das beschönigt nichts.» Vom Wort «Verstümmelung», das oft in Bezug auf Kinder mit Vulva verwendet wird, hält er sich im Kontext der Vorhautentfernung hingegen fern. «Hier von Verstümmelung zu sprechen, wird von vielen als Grenzüberschreitung empfunden. Auch wollen wir keine Vergleichsdiskussionen führen, sondern darauf aufmerksam machen, dass genitale Selbstbestimmung allen zusteht, unabhängig vom Geschlecht.»

Über das Entfernen der Vorhaut streiten sich Menschen schon sehr, sehr lange: Bereits in der Antike gab es Verbote und Widerstand. Seit der Eingriff Brauchtum wurde – schon vor Jahrhunderten beispielsweise bei Aborigines, Ägypter*innen, Hebräer*innen –, wurde er auch innerhalb der jeweiligen Kulturen kritisiert.

Ein sensibles Spannungsfeld Ephraim und Manasseh, selbst mit jüdischen Wurzeln, wissen um die Angst vor Antisemitismus, die bis heute bei der kritischen Diskussion über das Abschneiden der Vorhaut aufkommt. «Mir ist dieses Spannungsfeld aufgrund eigener Ausgrenzungserfahrungen bewusst», erzählt Manasseh, «und auch ich hatte früher Vorbehalte, etwa die Website von deutschen Verbänden für genitale Selbstbestimmung anzusehen. Wer weiss, dachte ich damals, vielleicht haben sie eine zweifelhafte Motivation. Mittlerweile stehen wir im engen Austausch mit diesen Organisationen. Unsere Sichtweise hat sich also zum Positiven verändert.»

Im deutschsprachigen Raum gibt es mehrere Verbände, die sich gegen medizinisch nicht notwendige Beschneidungen einsetzen. Manche grenzen sich explizit von diskriminierenden Motivationen ab.

Am lautesten ist die Diskussion in den USA, wo die erste derartige Organisation bereits 1985 gegründet wurde. 2008 lief eine internationale Kampagne, die von diversen Vereinen getragen wurde, um sich gegen eine WHO-Empfehlung zu wehren: Diese hatte Beschneidung im Rahmen der HIV-Prävention empfohlen. Eine Empfehlung, über die zahlreiche, sich widersprechende Studien existieren.

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Potenziell gefährlich sind allerdings die Folgen von Beschneidungen: Verletzungen der Harnröhre, Nachblutungen, Infektionen. Bei mindestens jedem 50. Fall einer Beschneidung kommt es zu solchen Komplikationen. Manasseh fügt an: «Wenn lebendiges, funktionales Gewebe weggeschnitten wird, ist das denn keine Komplikation?» Aufgrund des Sensibilitätsverlusts, der mit diesem Eingriff einhergeht, sprechen kritische Mediziner*innen gar von einer «Komplikationsrate von 100 %».

So wurde das den Seidenberg-Zwillingen nicht beigebracht. «Wenn früher das Abschneiden der Vorhaut mal Thema war, dann nur im Kontext, dass es gut ist», erinnert sich Manasseh. «Ich glaubte die Argumente, die wir immer wieder hören: Ein Penis ohne Vorhaut ist hygienisch, sauberer, schöner.» Das impliziere wiederum vieles über die Vorhaut: «Wir wachsen auf mit der Vorstellung, die Vorhaut sei etwas Schmutziges oder Negatives. Ich hatte früher das Gefühl, keine Vorhaut zu haben sei nicht nur ein Vorteil, sondern verband damit fast schon ein Überlegenheitsgefühl.»

Apropos Überlegenheit: Während es Ende des 19. Jahrhunderts rassistische Argumentationen gegen das Beschneiden gab, wurde etwa zeitgleich in den englischsprachigen Teilen von Kanada, Australien, Neuseeland und den USA die Beschneidung als Prävention gegen die Masturbation propagiert – und gleichzeitig als Bestrafung für diejenigen, die es wagten, sich selbst zu befriedigen. Es war also auch eine sexnegative Moral, die zu dieser Zeit in manchen Teilen der westlichen Welt die Beschneidung verbreitete, und nicht etwa ausschliesslich religiöse Motivation seitens muslimischer oder jüdischer Glaubensgruppen.

Die Hosen runterlassen In Deutschland gibt es den Verband «Intaktiv» (vom deutschen «intakt»), der sich für die genitale Selbstbestimmung einsetzt; einer ihrer Botschafter ist der Comic­zeichner Ralf König. Ausserdem gibt es den Betroffenenverein «MOGiS», der sich allgemein mit Kinderschutz, Kinderrechten und Opferhilfen auseinandersetzt. Der Schweizer Verband Pro Kinderrechte ist vor allem juristisch aktiv. Ephraim und Manasseh sind deshalb dabei, einen eigenen Verein aufzubauen, um Aufklärungsarbeit über die Vorhaut zu betreiben und sich effizienter vernetzen zu können. Aber auch, um Selbsthilfe zu ermöglichen: Der Austausch unter Betroffenen, wie sie es nennen. Denn die eigene Betroffenheit ist ihnen sehr präsent.

«Jemandem einen Teil des Körpers zu entfernen, bedeutet auch, Gefühle wegzunehmen. Die Empfindungen, die ich in diesem Körperteil haben könnte, kann ich nicht mehr haben», formuliert es Ephraim. «Über diese Dinge zu reden, ist nicht einfach. Es bedeutet, die Hosen runterzulassen, die Thematik ist schambehaftet. Scham ist etwas, was nicht zu unserem gesellschaftlichen Bild von Männlichkeit passt.» Manchmal sei es auch Wut, die er empfinde; aber Scham und Schmerz seien weniger akzeptiert, führt er aus. Schmerz, der sich auch mental niederschlage.

Also: Beschneidung verbieten? Die Zwillinge sprechen über ein wichtiges Missverständnis. Sie argumentieren bewusst mit dem Begriff der «genitalen Selbstbestimmung». Er bildet eine Forderung: Dass Menschen selbst bestimmen können, ob und wann ein solcher Eingriff bei ihnen durchgeführt wird. «Wir wollen kein neues, spezifisches Verbot gegen das Abschneiden der Vorhaut», erläutert Ephraim, «sondern sind der Ansicht, dass die Selbstbestimmung schon jetzt jeder Person zusteht. Der Rechtsstaat und die Behörden sollen diese Selbstbestimmung schützen.» Für diesen Aktivismus kursiert im Netz das Wort «Intaktivisten».

Ein eigenes Wiki beschreibt sie als «Menschenrechtsaktivisten, die männliche, weibliche und intersexuelle Genitalien von Kindern vor Unwissenheit der Eltern, religiösem Fanatismus, medizinischer Gier und kulturellen Mythen schützen»; hier findet sich ein Berührungspunkt mit der intergeschlechtlichen Community, die sich für ein Verbot von Operationen an intergeschlechtlichen Säuglingen und Kindern einsetzt. Laut der Organisation «Rainbow Europe» gibt es in der Schweiz und in Österreich keine zusätzliche Gesetzgebung, die intergeschlechtliche Babys vor nichtnotwendigen Operationen schützt. In Deutschland, Portugal, Spanien und Malta sind solche Gesetze in Kraft.

Auch die Beschneidung findet Einzug in Gesetze: In Deutschland wurde im Jahr 2012 die nicht-therapeutische Vorhautentfernung legalisiert, im Rahmen des «Gesetzes über den Umfang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes». In den ersten sechs Monaten nach der Geburt eines Kindes dürfen auch Nichtärzt*innen einen solchen Eingriff vornehmen. Der Gesetzesbeschluss wird Jahre später noch von Ärzt*innen und Kinderschutzverbänden kritisiert. Dem Entscheid des Bundestags war ein Rechtsstreit vorangegangen, bei dem Richter*innen Beschneidungen als strafbare Körperverletzung gewertet hatten.

Am Jahrestag dieses Gerichtsurteils wird seither von Organisationen weltweit der Welttag für Genitale Selbstbestimmung gefeiert. Eine der Forderungen lautet, dass Menschen besser über die Risiken und Spätfolgen von Beschneidungen aufgeklärt werden. Und dass Menschen nur dann die Vorhaut entfernt wird, wenn sie selbst Zustimmung zum Eingriff geben können, oder in medizinisch begründeten Fällen, wenn jeder Therapieversuch, der die Vorhaut intakt­halten würde, erfolglos war.

«Kriegst du keinen hoch?» Die eigene Betroffenheit, das Reflektieren über die eigene körperliche Autonomie und deren Verletzung, machte Ephraim und Manasseh zu Aktivisten. Intaktivisten. Nicht weil sie primär nach politischem Engagement auf der Suche waren, sondern weil Informationen zu Folgen der Beschneidung einfach vorwiegend in aktivistischen Kontexten zu finden waren. An urologischen Kongressen etwa sei die Beschneidung als Thema nicht vorhanden.

Aber auch das Thematisieren im Privaten habe sie gewissermassen politisiert: «Nur schon um im eigenen Umfeld darüber zu reden, musst du dir eine aktivistische Haltung aneignen», berichtet Ephraim. Manasseh führt aus: «Viele Mitmenschen reagieren unter der Gürtellinie. Es kommen Reaktionen wie: Hast du denn Probleme? Kriegst du keinen hoch?» – «Natürlich, Leute haben auch einfach keinen Bock auf diese unangenehme Diskussion», so Ephraim. «Früher hätten wir es wohl auch seltsam gefunden, hätte jemand sich so auf das Thema der Vorhaut fokussiert. Und dann auch noch auf die Genitalien von Babys. Für viele Männer grenzt das Aufbringen dieser Anliegen schon an Aktivismus.» Also wurden sie zu Aktivisten.

Nun sind Ephraim und Manasseh also Teil dieses Intaktivismus. «Die Auseinandersetzung mit diesem Thema löst auch eine innere Auseinandersetzung aus», sagt Ephraim. «Das braucht Zeit.» Gleichzeitig ermögliche ihnen das Themenfeld auch Begegnungen mit feinfühligen Menschen mit Gespür für gesellschaftliche Themen. «Es ist ein verbindendes Thema: Wir tauschen uns aus mit Leuten mit muslimischem Hintergrund, mit Fachpersonen, mit Vertreter*innen von jüdischen Verbänden», erzählt Manasseh. «Es ist eine spannende Kombination von Leuten, die du so nicht an vielen Orten triffst.»

Die Auseinandersetzung mit dem Thema bringe sie ausserdem dazu, Geschlechterbilder zu reflektieren. «Das Beschäftigen mit dem Thema der Vorhaut hat mir auch feministische Anliegen und kritische Männlichkeit nähergebracht», sagt Ephraim. «Wenn wir darüber reden, dass Männer sich mehr mit ihren Gefühlen auseinandersetzen sollten, wäre es absurd, die genitale Selbstbestimmung auszuklammern. Als gäbe es bei der feministischen Forderung nach körperlicher Selbstbestimmung, zugespitzt formuliert, eine Fussnote, dass die Vorhaut eine Ausnahme ist. Nein: Männer sollten sehen, dass genitale Selbstbestimmung auch für sie wichtig ist.»

Dies hat bei Ephraim und Manasseh Seidenberg mehr ausgelöst, als sie erahnt hätten. Nun hoffen sie, damit etwas zu bewegen.

Was tun bei einer Vorhautverengung? Das rät Dr. Gay

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