Barbaros Altug und die Türkei – Heimweh ohne Hoffnung

In «Sticht in meine Seele» wirft Altug einen Blick auf einen versteckten Teil der Geschichte seines Landes

Bild: Orlanda Verlag
Bild: Orlanda Verlag

Der offen schwule Schriftsteller Barbaros Altug aus der Türkei hadert mit seiner Heimat und seine Heimat mit ihm. Sein neuer Roman stellt die Beziehung einmal mehr auf die Probe, diesmal mit einem besonders sensiblen Thema: dem Völkermord an den Armeniern.

Text: Daniel Sander

Das letzte Mal war Barbaros Altug vor einem Jahr in der Türkei, da lief es ganz gut. Niemand hat ihn eingesperrt, keine der Morddrohungen wurde wahrgemacht. Nicht, dass er sich von denen beeindrucken liesse. «Es ist immer ein Glücksspiel», sagt er und zuckt mit den Schultern. «Die sagen ja nicht Bescheid, ob es gerade sicher für mich ist.» 

Mit «die» meint Altug türkische Nationalist*innen im Allgemeinen und fanatische Anhänger*innen von Präsident Erdogan im Besonderen. Sie mögen ihn nicht, was auf Gegenseitigkeit beruht; aber sie können ihn leichter in Bedrängnis bringen als er sie. Aktuell kursiere im Netz wieder eine Liste mit Staatsfeinden, die hinter Gitter gehörten, sagt er. «Da stehe ich drauf.» 

Keinem Streit aus dem Weg gehen Es würde ihn wohl mehr sorgen, wenn dem nicht so wäre. Barbaros Altug kritisiert seit Jahren öffentlich die Regierungspartei AKP, prangert an, was er als staatlich verordnete Verbrechen empfindet, fordert laut gleiche Rechte für LGBTQ im Land. Er ist nicht der Typ, der Streit aus dem Weg geht.

Statt nach Istanbul zu reisen, bleibt der 48-jährige Schriftsteller im Moment trotzdem lieber in seiner lichten Altbauwohnung in Berlin. Sein zweiter Roman «Sticht in meine Seele» ist gerade in Deutschland erschienen – noch nicht in der Türkei, aber Altug ist sicher, dass man dort die hiesige Berichterstattung verfolge. Und dass sie ihm eine Menge neuer Feinde bringen werde. 

Das Buch spielt im Jahr 2007, kurz nach der Ermordung des armenischen Publizisten Hrant Dink durch einen 16-jährigen türkischen Nationalisten. Die lesbische Journalistin Derin reist aus Paris in ihre alte Heimat Istanbul, um über die Beerdigung zu berichten. Dabei stösst sie auf verstörende Geschichten aus einer anderen Zeit, die sich langsam mit ihrer eigenen Familiengeschichte verstricken; Geschichten von den Massakern osmanischer Soldaten an armenischen Zivilist*innen während des Ersten Weltkriegs; von den Todesmärschen, den hingerichteten Vätern, den vergewaltigten Müttern, den sterbenden Kindern; von der grossen Schuld einer vergangenen Generation, vergessen gemacht von den folgenden.

Ein Buch als Provokation Es ist ein dichter, mit leiser Sehnsucht erzählter Roman über die kleinen und die grossen Schatten der Vergangenheit; keine Abrechnung mit einer ganzen Nation. Doch das macht die Geschichte nicht weniger brenzlig. Denn ein Buch, das den Völkermord der Türk*innen an den Armenier*innen zum Thema macht, kann in der Türkei nur als Provokation wahrgenommen werden. Denn aus türkischer Sicht gab es diesen Völkermord nicht. 

«Es gibt in der Türkei eine tief verinnerlichte Überzeugung, dass man Minderheiten einfach umbringen kann, wenn sie einem nicht passen – ob Frauen, LGBTIQ oder Armenier*innen.»

Auf der ganzen Welt sind sich Historiker*innen einig, dass es sich bei den Massakern an der armenischen Bevölkerung im Osmanischen Reich um einen systematischen Genozid handelte, Schätzungen gehen von über 1,5 Millionen Opfern aus. Nur die türkische Geschichtsschreibung hält am Narrativ fest, dass es sich um notwendige Deportationen gehandelt habe, kriegsbedingt, dass die eigentlichen Aggressoren die Armenier gewesen seien. Was aus armenischer Sicht die grösste nationale Katastrophe in der Geschichte und ungesühntes Unrecht bedeutet, ist für die Türkei überhaupt nicht passiert.

Staat hält sich für moralisch überlegen «Genau deswegen habe ich das Buch geschrieben», sagt Barbaros Altug. «Es gab nie eine Entschuldigung, keine Debatte – niemand in der Türkei will davon etwas hören.» Selbst einige seiner linken Künstlerfreund*innen seien da ganz auf Staatslinie. «Es gehört zum türkischen Selbstverständnis, sich für moralisch überlegen zu halten», sagt er. «Für unfehlbare Engel.»

Das führe dazu, dass sich die Geschichte immer wiederhole, ohne Möglichkeit der Korrektur. «Ich glaube, es gibt in der Türkei eine tief verinnerlichte Überzeugung, dass man Minderheiten einfach umbringen kann, wenn sie einem nicht passen – ob Frauen, LGBTIQ, Alevit*innen, Kurd*innen oder Armenier*innen», sagt er. «Wenn das aufhören soll, müssen wir lernen, unsere Schuld zuzugeben, und mit dem schlimmsten Kapitel anfangen: dem Völkermord.»

Es gehe ihm nicht darum, jede Türkin und jeden Türken anzuklagen und zu belehren. «Ich will doch nur, dass sich dieses Land endlich mal zum Besseren verändert und nicht immer umgekehrt.»

Türkei war Deutschland 22 Jahre voraus Altug erinnert sich gern an die besseren Zeiten. Auch wenn er sich schon als Kind ständig mit Freund*innen und Familie über die Ungerechtigkeiten der Welt gestritten habe. «Ich hatte entsprechend wenige Freund*innen», sagt er und lacht. «Stellen Sie sich das mal vor». Insgesamt sei er aber unbeschwert in Ankara und Istanbul aufgewachsen. Die Türkei war damals stolz auf ihre Säkularität, Agnostiker*innen respektierten Gläubige und umgekehrt. Mit Tansu Çiller als Ministerpräsidentin stand 1993 eine Frau an der Spitze des Staates. Da war in Deutschland an so etwas noch nicht zu denken.

Er kommt aus einer Verlegerfamilie, hat schon mit 13 Jahren als Lektor ausgeholfen, mit türkischen Übersetzungen von Gorki-Romanen. Religion spielte für ihn keine Rolle. «Ich wollte immer schreiben, und gleichzeitig war ich immer Aktivist», sagt er. «Am Anfang ging es um meine Identität – ich fand es wichtig, als schwule Person eine Stimme zu haben und ihr Gehör zu verschaffen.»

Lesbische Heldin für die Sichtbarkeit Damit hat er auch während seines Studiums weitergemacht – Ingenieurwesen und amerikanische Literatur in Ankara, Journalismus in Mailand – und danach als Autor bei der türkischen Elle und als Kolumnist der Tageszeitung Taref. «Ich habe meine Homosexualität in meinen Kolumnen immer zum Thema gemacht, auch wenn das viele genervt hat», sagt er. «Ich wollte das als normal darzustellen – deswegen ist die Heldin in «Sticht meine Seele» auch eine Lesbe – und zwar eine, die damit nicht das geringste Problem hat.»

Irgendwann habe er angefangen, einfach über alles zu schreiben, was er für antidemokratisch hielt. Als vor knapp 20 Jahren die konservative AKP an die Macht kam, fand er seinen Endgegner. Er hat jahrelang gekämpft, gegen Ungerechtigkeiten angeschrieben, als Literaturagent kritische Perspektiven an die Öffentlichkeit gebracht. Später hat er jeden Tag hoffnungsvoll bei den Gezi-Protesten demonstriert, um dann langsam alle Hoffnung zu verlieren. Nach dem versuchten Putsch im Jahr 2016 und der folgenden Erosion des Rechtsstaats sah er in der Türkei für sich keine Zukunft mehr. Er zog erst nach Paris, dann nach Berlin. Nirgendwo fühle er sich so frei wie dort.

Und trotzdem. Irgendwie zieht es ihn doch immer wieder zurück, wenigstens kurz. «Meine Beziehung zur Türkei – das ist, als erinnerte ich mich an jemanden, in den ich mal sehr verliebt war, weil wir so viele Dinge gemeinsam erlebt haben», sagt er. «Und dann geht jeder seiner Wege und viele Jahre später hat man kaum noch etwas gemeinsam.»

Doch ganz ohne einander?

 

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