Über die Schmerzgrenze: «Der Rosa Winkel» auf der Bühne
Ein überbordendes Theaterereignis in Wien, meint unser Rezensent
Nach den grossen Erfolgen in Wien und Hamburg bringt das immersive Theaterensemble Nesterval seine jüngste Erfolgsproduktion als Neubearbeitung wieder auf die Bühne. In «Der Rosa Winkel – Die Geschichte der Namenlosen» erzählen sie von dem Leben Homosexueller in Wien zur NS-Zeit.
Über die Verfolgung und Ermordung von Homosexuellen zur Zeit des Nationalsozialismus ist nach wie vor viel zu wenig bekannt. Das liegt vor allem daran, dass Homosexuelle und andere LGBTIQ-Minderheiten beim Gedenken sowohl in Deutschland als auch in Österreich weitgehend ignoriert wurden. Schliesslich setzte sich nicht nur die Strafverfolgung, sondern vor allem auch die gesellschaftliche Ächtung nahtlos fort, weshalb viele Opfer über den Grund ihrer Inhaftierung schwiegen und viele Schicksale nie genau bekannt wurden. Somit ist der Stand der Forschung und das allgemeine Wissen über die NS-Homosexuellenverfolgung auch im Jahre 2024 immer noch recht dürftig – und auch erinnerungskulturell finden sich nur wenige Gedenkzeichen (MANNSCHAFT berichtete über das erste Denkmal für verfolgte Homosexuelle in Wien).
Die Stadt Wien ist da einen grossen Schritt weiter – nicht zuletzt dank der Arbeit von QWIEN – Zentrum für queere Geschichte. Seit 2013 werden umfangreiche Forschungsarbeiten hinsichtlich der Verfolgung von Personen, denen in der NS-Zeit Homosexualität vorgeworfen wurde, durchgeführt. Trotz grosser Lücken in der Überlieferung konnten auf diese Weise hunderte Einzelschicksale dokumentiert und in einer Datenbank erfasst werden, wodurch erstmals valide Zahlen für die Verfolgung in Wien vorliegen.
Dieses dokumentarische Material konnte das queere Theaterensemble Nesterval aus Wien nutzen, um daraus ihr Stück «Der Rosa Winkel – Die Geschichte der Namenlosen» zu entwickeln. Darin setzen sie sich anhand verschiedener Biografien mit der systematischen Verfolgung und Ermordung homosexueller und trans Menschen in Wien während der NS-Zeit auseinander. In einem immersiven Theatererlebnis integrieren sie das Publikum ins Spielgeschehen und schaffen eine überwältigende Theatererfahrung, die Erinnerungskultur nicht nur hautnah erleben lässt, sondern auch allen noch lange nachhallen dürfte.
Das Stück basiert auf ihrer Erfolgsproduktion «Die Namenlosen», die in der letzten Spielzeit in Koproduktion mit Brut Wien im Nordwestbahnhof gezeigt wurde und anschliessend beim Internationalen Sommerfestival Kampnagel in einer Hamburger-Version gastierte. Es folgten eine Nominierung für den Wiener Theaterpreis Nestroy und Einladungen zum virtuellen Nachtkritik-Theatertreffen und dem Impulse Theater Festival. Nun ist das Stück für 20 weitere Male wieder in Wien zu sehen – diesmal im Brut nordwest. Und die Nachfrage scheint ungebrochen: Bereits wenige Minuten nach Vorverkaufsstart waren sämtliche Vorstellungen restlos ausverkauft.
So dunkel die Welt da draussen auch ist, in der Kantine Nesterval brennt immer noch Licht und es wird ausgelassen getrunken, getanzt und gelacht. Dieser fiktive Zufluchtsort ist Teil der queeren Wiener Subkultur und Dreh- und Angelpunkt für all jene, die anders lieben und leben. Erzählt wird hier die Zeit zwischen 1939 und 1944. Ein Jahr nach dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland wird die Luft gerade für homosexuelle Menschen zunehmend dünner. Zu Beginn treffen wir auf sieben homosexuelle Charaktere, die Namenlosen, von denen wir lediglich den Anfangsbuchstaben ihres Namens erfahren. Die sich vor den Augen des Publikums entspinnenden Biografien beruhen dabei nicht nur auf den Leben einzelner Personen, sondern stehen für zahlreiche Schicksale, die unter eben jenen Buchstaben zusammengefasst werden.
Dann trennen sich die Wege des 120-köpfigen Publikums und man begleitet einen einzelnen Charakter und folgt den Handlungssträngen, die sich mit den Geschichten der anderen Figuren – sowohl weiterer Opfer als auch Täter*innen – nach und nach miteinander verweben. Dabei kann es sich sowohl um einen der Namenlosen als auch eine*n der «Anderen», wie z. B. dem als «Schwulenjäger» bekannten Kriminalbeamten Karl Seiringer, handeln.
Vom sorglosen ersten Kennenlernen und dem Einblick in das freizügige und ausschweifende Leben der homosexuellen Figuren bleibt am Ende nur kaum etwas übrig. Insgesamt erlebt jede*r Zuschauer*in während der dreistündigen Aufführungsdauer 21 von insgesamt 171 gleichzeitig stattfindenden Szenen. 20 verschiedene – teils reale – Orte werden hier in einem riesigen schwarzen Labyrinth bespielt, die teils minutiös und mit grösster Detailverliebtheit eingerichtet sind. Eine beeindruckende Gesamtleistung des Teams unter der künstlerischen Leitung von Regisseur und Schauspieler Martin Finnland.
Durch die Integration des Publikums – wir Zuschauer*innen seien die «Gedanken» in den Köpfen der Protagonist*innen – und die Unmittelbarkeit und körperliche Nähe zum Geschehen – eine Trennung zwischen Bühne und Tribüne gibt es nicht – geht einem das Spiel der 22 Darsteller*innen unweigerlich nahe. Theater als Grenzerfahrung, der man sich kaum entziehen kann und die mit weiterem Verlauf des Abends zunehmend schmerzvoller wird. Das rasche und nahtlose Eintauchen in die Geschichten geht vor allem auf die starke Dramaturgie und den bewegenden Stücktext zurück, den Teresa Löfberg gemeinsam mit ihren Co-Autor*innen Martin Finnland, Gisa Fellerer und Lorenz Tröbinger verfasste. Das QWIEN unterstützte hier nicht nur bei der Recherche, sondern prüfte den Text abschliessend auch aus wissenschaftlicher Perspektive.
Und wer noch tiefer in die Thematik des Stücks und die Verfolgung von queeren Menschen in den Jahren der Naziherrschaft in Wien eintauchen möchte, dem sei einer der queeren Bezirksstadtgänge empfohlen, die QWIEN begleitend zu dem Stück anbietet (MANNSCHAFT berichtete über das Buch «Als homosexuell verfolgt» mit Wiener-Biografien aus der NS-Zeit). Eins sei dabei garantiert: Man läuft fortan mit anderen Augen durch Österreichs Hauptstadt.
Die deutsch-österreichische, queere Millionenerbin Marlene Engelhorn gibt einen Grossteil ihres Vermögens an die Allgemeinheit zurück. Nun hat ein Bürgerrat über die Verwendung von 25 Millionen Euro entschieden (MANNSCHAFT berichtete).
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