«Warum outet er sich nicht?» – Vom Spagat zwischen den Kulturen

Wenn die sexuelle Orientierung eine Selbstverständlichkeit ist, aber nicht ausgesprochen wird

Bild: Pau Villanueva
Bild: Pau Villanueva

In Europa schreiben wir dem Coming-out eine grosse Bedeutung zu und erachten es sogar als notwendiges Mittel, um frei und selbstbestimmt leben zu können. In Asien, wo vieles der Gemeinschaft untergeordnet wird, hat die eigene Identität oft das Nachsehen. Ein Essay.

«Willst du das nicht deiner Freundin mitbringen?», sagt mein Onkel und zeigt mit dem Finger auf eine mit Perlmutt überzogene Vase, die sich nicht gross von den anderen im Regal unterscheidet. Mit einer solchen Frage habe ich nicht gerechnet und ich bin perplex. Mein Freund, der neben mir steht, ist es auch und schaut mich verwirrt an. Wir befinden uns in einem Souvenirgeschäft irgendwo in der Megametropole Manila auf den Philippinen und stehen gelangweilt herum, während meine Eltern bei der Kasse um einen Preis feilschen.



Ich muss zugeben, dass ich mich bei meinen Verwandten auf meiner asiatischen Seite nie geoutet habe. Zum einen, weil auf den Philippinen der Begriff «schwul» immer noch negativ konnotiert ist. Zum anderen, weil ich zu diesem Zeitpunkt schon seit über zehn Jahren geoutet und meine sexuelle Orientierung schon längst zu einer Selbstverständlichkeit geworden war.

Die wiederholten Male, dass mein Freund mich auf die Philippinen begleitete – sei das nun allein oder gemeinsam mit meinen Eltern oder mit meinen Schwestern – erachte ich als genug deutlichen Wink mit dem Zaunpfahl, dass es sich bei ihm nicht nur um einen Freund, sondern um meinen Freund im Sinne von Partner handelt. Schliesslich ist mein Cousin, der Sohn meines Onkels, ja selbst schwul und lebt bereits seit über einem Jahrzehnt mit seinem Partner zusammen.

Ungeoutet glücklich? Das ist jedoch nicht offiziell, obwohl die Indizien dafür selbstredend sind. Mein Cousin und sein Partner wohnen zu zweit in einem schicken Hochhaus in einer geschlossenen Wohnanlage im wohlhabenden Teil von San Juan, einer der 16 Städte, die die Metropolregion Manila ausmachen. Sie besitzen drei reinrassige Brichon Frisé – niedliche weisse Schosshunde mit flauschig- lockigem Haar –, die sie nach Strich und Faden verwöhnen und ab und zu auch mit in den Urlaub nehmen, selbstverständlich in der Business Class.

Bei Familienanlässen ist der Partner meines Cousins immer dabei, auch zu Weihnachten. Die Fragen meines Onkels, wann mein Cousin denn heirate und Kinder kriege, haben über die Jahre vielleicht abgenommen, aber er stellt sie immer noch, egal ob am Familientisch oder unter vier Augen. Mein Cousin und sein Partner sind beide über 50 – und trotz ihrer langjährigen Beziehung gegen aussen nichts weiter als gute Freunde, Mitbewohner.

Obwohl mir diese Mechanismen vertraut geworden sind, trifft mich die Frage meines Onkels im Souvenirgeschäft unerwartet. Dass gleichgeschlechtliche Beziehungen in Asien stark tabuisiert sind, ist mir klar. Ungewohnt ist für mich hingegen, wie vehement die Menschen ihre Augen davor verschliessen. Mein Onkel ist ein gutmütiger Mann, vielleicht ein bisschen naiv, aber nicht dumm. Ich bin überzeugt, dass er tief im Innern weiss, dass mein Cousin und sein Partner mehr als nur gute Freunde sind, auch wenn er sich das nie eingestehen würde.

Das Coming-out: ein westliches Konzept? Freund*innen aus Europa, denen ich das erzähle oder die mit mir Urlaub auf den Philippinen machen, reagieren oft mit Verwirrung oder Unverständnis auf diese Situation. «Warum bist du im Souvenirgeschäft nicht für deinen Freund eingestanden und hast Klartext gesprochen?» «Warum outet sich dein Cousin nicht? Es ist doch sonnenklar, dass er in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung lebt.» Das zu erklären, fällt mir oft schwierig.

Einerseits bin ich ein Verfechter des Coming-outs – ich weiss, wie stark sich die mentale Gesundheit verbessert, wenn man sich nicht verstecken muss und zur Person stehen kann, die man liebt. Indem mein Onkel im Souvenirgeschäft eine potenzielle «Freundin» erwähnte, spürte ich wieder diesen Stich im Magen, das Gefühl, als würde ich mich wie früher verstellen müssen.



Andererseits bin ich nicht jemand, der die Regenbogenfahne auf der Stirn trägt und in der Öffentlichkeit küsst oder Händchen hält – ich habe aber nichts dagegen, wenn das andere tun. Und doch habe ich mich im Souvenirgeschäft anders verhalten, als ich das in Europa getan hätte. Dem Schwager meines Schweizer Vaters hätte ich ohne mit der Wimper zu zucken gesagt, dass ich keine Freundin, sondern einen Freund hätte, und dass dieser neben mir steht. Wieso habe ich es beim Schwager meiner Mutter nicht getan?

In Asien wird die Familie grossgeschrieben, bestes Beispiel dafür ist der Mehrgenerationenhaushalt. Alte Menschen bleiben bis zu ihrem Lebensende umgeben von ihren Kindern und Kindeskindern – sie sind die Familienoberhäupter, denen man nicht widerspricht. Wer auszieht, tut dies bei der Heirat. Im traditionellen Fall, wir sprechen hier natürlich von heterosexuellen Ehen, zieht die Braut zur Familie des Ehemannes. Geradezu unvorstellbar sind junge Erwachsene, die von zuhause ausziehen und selbstständig – und dazu noch unverheiratet! – in WGs leben.

Manila Pride

Unsere westliche Mentalität ist hingegen von Individualismus und Selbstverwirklichung geprägt, von schwarz oder weiss. Die Bedürfnisse des Einzelnen stehen im Vordergrund: Du bist erwachsen und hast einen Job? Zieh aus und leb dein Leben! Deine Familie akzeptiert deine Sexualität nicht? Brich den Kontakt ab! Dein Job gefällt dir nicht? Kündige und mach, was dir gefällt! Selbst das Konzept eines Coming-outs ist für mich ein Phänomen des Westens. Es ist eine Ansage des Andersseins und Ausdruck der Individualität, die in Asien nicht unbedingt an erster Stelle stehen. Denn wer sondert sich schon gerne von der Gemeinschaft ab?

Vom Kolonialismus geprägt Vielfalt und Individualität sind für Europa relativ neue Werte. Wie vielen ehemaligen Kolonien in Asien, Afrika, der Karibik und Lateinamerika wurden den Philippinen die europäischen Werte aus dem Mittelalter aufgedrückt. Die Kolonialmächte erzwangen das Christentum und verfassten Strafgesetzbücher nach europäischem Vorbild. Mehr als die Hälfte der Länder, in denen homosexuelle Handlungen heute unter Strafe stehen, sind ehemalige britische Kolonien, deren Gesetze von den Briten eingeführt wurden.

Die Philippinen sind heute das letzte Land der Welt, in dem Scheidungen illegal sind. Abtreibungen sind verboten, Verhütung ist verschmäht und der Einfluss der katholischen Kirche ist so immens wie kaum anderswo auf der Welt. Glücklicherweise hat die Religion in meiner asiatischen Familie nie eine grundlegende Rolle gespielt.

Während der spanische Kolonialismus auf die Inseln kam, um seine Kirchen und Städte mit spanischen Namen zu errichten, hatte mein Urgrossvater unternehmerische Ambitionen. Wie viele andere Geschäftsleute wanderte er im frühen 20. Jahrhundert von China nach Manila aus. Zu dieser Zeit hatten die USA die Spanier als Kolonialmacht abgelöst und ihre ersten militärischen Stützpunkte errichtet.

In der Wirtschaft herrschte Aufbruchstimmung: Chinesische Unternehmensfamilien bauten ihre Geschäfte auf und verheirateten ihre Kinder untereinander, um den Fortbestand ihrer Firmen abzusichern. Mein Grossvater eröffnete eine Druckerei, ein Transportgeschäft und Papeterien und stellte Familienmitglieder ein, damit das Geld in der Familie blieb. Die Hochzeit meiner Mutter mit einem weissen Europäer war verpönt. Man hatte es nicht nötig und lieferte der mittlerweile angestaubten chinesischen Oberschicht Manilas nur unnötigen Klatsch und Tratsch.

Geprahlt wird dort mit Geld, unternehmerischem Erfolg und vorbildlichen Kindern, die nicht mit weissen Männern durchbrennen oder sich als schwul outen. Als westlich sozialisierter Mensch konnte ich lange nicht verstehen, weshalb meine Mutter in Oberflächlichkeiten suhlte, wenn sie ihre ehemaligen Schulfreundinnen in Manila besuchte und mit ihnen scherzte, dass sie deren Töchter mit mir verkuppeln könnten.

Sicht- und unsichtbar Gemeinsam mit Thailand gehören die Philippinen zu den LGBTIQ-freundlichsten Ländern Asiens. 2023 nahmen 110’000 Menschen an der Metro Manila Pride teil, die grösste ihrer Art in Südostasien. Trotzdem ist Queerness hier noch mit sozialer Klasse verbunden. Wer sich mit der Regenbogenfahne auf der Strasse zeigt, hat nichts zu verlieren und passt nicht in eine von katholischen Werten und traditionellen Geschlechterrollen geprägte Gesellschaft.

Aufschlussreich ist ein Blick auf die sozialen Medien: Der Instagram-Account von Metro Manila Pride zählt lediglich 14’000 Follower*innen. Für eine Megastadt mit knapp 15 Millionen Einwohner*innen ist das nicht sehr viel. Haben Leute Angst, dass sich durch ein Folgen des Profils Rückschlüsse auf ihre Sexualität ziehen lassen? Zum Vergleich: Die Instagram-Accounts der Berlin oder Zurich Pride – vergleichsweise kleine Städte – zählen je über 20’000 Follower*innen.



Bakla, das philippinische Wort für schwul, steht für einen Mann, der sich feminin präsentiert und daher «minderwertig» ist. Schwule Männer sind sichtbar in Friseursalons und im Fernsehen, wo sie für Lacher zuständig sind – als quirlige Nebenfiguren, die im Alltag für Belustigung sorgen. Für zu viele trans Frauen ist die Sexarbeit keine Wahl, sondern der letzte Ausweg.

Wenn Dragqueens, trans Menschen, Nicht-Binäre, Schwule und Lesben auf der Strasse bei über 40 Grad für gleiche Rechte demonstrieren, kriegen das die Familien der Mittel- und Oberschicht in den klimatisierten Teehäusern nicht mit. Das Stigma klebt wie das T-Shirt in der feuchten Tropenhitze am Körper.

Dieses Stigma ist so gross, dass es auch zwischen mir und meinem Cousin unausgesprochen bleibt. Und doch verbindet uns ein starkes Gefühl der Zusammengehörigkeit. Die Selbstermächtigung schaffte er ohne Coming-out – er arbeitet nicht für das Familiengeschäft, sondern für eine Bank. Ich male mir jeweils aus, wie mein Leben an seiner Stelle aussehen würde, und ich kann mir vorstellen, dass es ihm ähnlich geht.

Bei unserem letzten Treffen in Manila besuchten wir zu viert eine Dragshow: unsere Partner, mein Cousin und ich. Und als ich dort im Publikum sass, realisierte ich, dass unsere Wege gar nicht so verschieden waren. Mein Cousin hatte vielleicht kein Coming-out, aber er lebt mit seinem Partner zusammen, der ebenfalls am Tisch sitzt, wenn die Eltern zu Besuch kommen. Und das ist das, was zählt.

31 der 54 Staaten des afrikanischen Kontinents haben Homosexualität unter Strafe gestellt. Das 2023 verabschiedete Gesetz in Uganda zählt zu den härtesten Anti-LGBTIQ-Richtlinien weltweit. Ghana könnte nachziehen. Aktivist*innen aus diesen Ländern haben ihre Heimat verlassen, einige leben in Berlin. Dort haben wir sie getroffen (MANNSCHAFT+).

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