Unter schwulen Boxern: «Schweben wie ein Schmetterling»

Nicht in jedem Sport werden Homosexuelle ohne weiteres akzeptiert

Fühlte sich in anderen Vereinen nicht sicher: Marco (Bild: Jens Franke)
Fühlte sich in anderen Vereinen nicht sicher: Marco (Bild: Jens Franke)

Homosexuelle Männer, die boxen – für viele ist das noch schwerer vorstellbar als schwule Kicker. Selbst in der Community fehlt dafür einigen die Fantasie. Ein Besuch bei den Berliner Boxkerlen.

«Den Kopf gerade! Lockere Schultern!», ruft Trainer Felix beim Aufwärmen in die Runde. Einen Jungboxer lobt er: «Sauber ausboxen – jawoll». «Du bist im Passgang!», korrigiert er den nächsten. Wer beim Besuch der Boxkerle eine Haudrauf-Veranstaltung erwartet, der irrt. Bevor hier beim Training überhaupt mal eine Faust zum Einsatz kommt, muss sich das knappe Dutzend schwuler Amateurboxer zwischen Anfang 20 und Mitte 60 ordentlich warm machen. Mit Seilspringen zum Beispiel und anderen Übungen für Füsse und Beine.

Boxchampion Muhammad Ali war bekannt für seine schnelle Beinarbeit – und seine ebenso flotten Sprüche. «Ich bin so schnell: Als ich letzte Nacht das Licht in meinem Hotelzimmer ausgemacht habe, war ich im Bett, ehe es dunkel war», soll er mal gesagt haben.

Nicht dass die Männer hier eine Boxkarriere nach dem Vorbild des 2016 verstorbenen Ali anstreben. Sie kommen aus unterschiedlichen Gründen jeden Samstag hierher, um zu trainieren. Andere Leute verdreschen gehört nicht dazu.

«Schön tief atmen! Grosse Schritte machen! Schön reinfallen in die Bewegung!», ruft Felix den Männern zu, die beim Schattenboxen ihre Muskeln aufwärmen, bevor sie die Boxsäcke bearbeiten, die in verschiedenen Grössen und Farben von der Decke hängen.

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Der Trainer war dreifacher Bezirksmeister Felix spricht mit ruhiger Stimme. Der Vorsitzende des Vereins weiss, was er tut. Der gebürtige Leipziger boxt schon seit seiner Kindheit, konnte Anfang der Siebzigerjahre dreimal in Folge die Bezirksmeisterschaft in seiner Altersklasse gewinnen. 1977, da war er 18 und schon Senior, hat er nochmal den dritten Platz bei der VI. Kinder- und Jugendspartakiade der DDR belegt.

«Für mich war das fast der grösste Erfolg, weil auf den Siegertreppchen normalerweise nur die Boxer von der Kinder- und Jugendsportschule standen», sagt er heute. Auf die KJS-Spezialsportschule kamen nur die Besten. Felix nicht. «Ich hatte einen Vater, der im Westen lebte. Und Kinder mit Westverwandtschaft, noch dazu ersten Grades, wurden auf der KJS nicht aufgenommen.»

Felix hat dann Musik studiert, klassischen Gesang, und als Solist abgeschlossen. Nach einer Stimmkrise arbeitete er im Sozialbereich und ist heute kultureller Mitarbeiter im öffentlichen Dienst. Erst 2018 wurde der Boxer in ihm wieder «wachgeküsst», wie er sagt – von Harald, der heute auch im Verein trainiert: «Kannst du uns das beibringen?», fragte der damals.

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Anfangs trafen sie sich zu zweit oder zu dritt auf einer Wiese im Berliner Tiergarten. Für eine kurze Zeit konnten sie beim queeren Mehrspartenverein Vorspiel einen kleinen Trainingsraum nutzen. Aber plötzlich waren sie zu siebt und der Raum zu eng.

Nun sind die Boxkerle nicht der erste und nicht der einzige Verein aus der LGBTIQ-Community der deutschen Hauptstadt, der sich dem Boxen verschrieben hat. Schon seit 2005 gibt es die Boxgirls Berlin, offen für Mädchen, junge Frauen und Queers.

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Vereinsgründung folgte 2019 «Aber wir schwulen Männer wollten ungern unter dem Namen Boxgirls trainieren», erklärt Felix. 2019 wurde der eigene Verein gegründet. Um einen Rahmen zu schaffen, wo Männer gegen Männer boxen können, einen Safe Space.

Es ist schwer, einen geeigneten Verein zu finden, sagt Boxkerl und Kassenwart Stephan. «Im Kampfsport begegnest du vielen Leuten mit Migrationshintergrund. An sich kein Thema, aber für Schwule spielt es schon eine grosse Rolle: Denn es fallen immer wieder doofe Sprüche.» Sie brauchten vernünftige Räume zum Trainieren, die fanden sie beim Land Berlin. Dessen Räume mieten und nutzen kann aber nur, wer ein gemeinnützig anerkannter Verein ist und noch dazu Mitglied im Berliner Boxverband.

«Wir haben nix gegen Schwule, aber hier trainieren auch Kinder und Jugendliche.»

Der wollte allerdings nicht, dass in den Räumen noch ein dritter Boxverein trainiert. Schon gar kein schwuler. «Das haben sie natürlich nicht offiziell gesagt», erinnert sich Felix. Vielmehr lautete die Begründung: «Wir haben nix gegen Schwule, aber hier trainieren Kinder und Jugendliche mit. Wenn die Männer jetzt HIV-positiv sind und eins auf die Nase kriegen und dann Blut an den Geräten klebt – was ist dann mit unseren Kindern?»

Boxverband sträubte sich gegen schwulen Verein Die absurde Diskussion zog sich über Monate und mehrere Vorstandssitzungen. Der Boxverband blieb stur. Es folgte ein klärendes Gespräch beim Sportamt Mitte, das die Räume verwaltet. Man zog Experten von der Deutschen AIDS-Hilfe hinzu, die versicherten, dass die Angst vor einer HIV-Ansteckung unbegründet war. Das Sportamt hat schliesslich ein Machtwort gesprochen und verkündet: Die schwulen Boxkerle trainieren jetzt auch hier. Basta.

Der Boxverband musste sich geschlagen geben, doch als die schwulen Amateure zum ersten Mal trainieren wollten, war der Ring mit Ketten abgesperrt. Alle Geräte, die normalerweise aufgehängt sind, lagen zusammengekettet in einer Ecke. «Wir kamen gar nicht an die Geräte – das war unsere Begrüssung», erzählt Felix. Nach einer offiziellen Beschwerde haben sich die Heteros endlich beruhigt.

«Bei allen Fortschritten: Natürlich gibt es immer noch Homophobie in der Gesellschaft», sagt Felix. «Und die macht sich gerade in den sogenannten maskulinen Sportarten bemerkbar, wo die Männlichkeit betont wird. Das ist neben Fussball und Gewichtheben eben auch Boxen.»

«Boxt ihr mit Wattebäuschchen?» Wobei auch das Verständnis unter Schwulen oft nicht besonders ausgeprägt ist. Wenn Stephan schwulen Freunden von seinem Hobby erzählt, nehmen die es oft nicht ernst. «Boxt ihr mit Wattebäuschchen?», fragen die dann und ziehen es ins Lächerliche.



Aber davon lässt er sich nicht abhalten. «Für mich ist es eine phänomenale Erfahrung, wie komplex dieser Sport ist: Beinarbeit, Angriff, Verteidigung.»

Der 68-Jährige ist von Haus aus Architekt. Ihn reizte vor allem der sportliche Aspekt, auch das genaue Training ist ihm wichtig. «Man lernt seine eigene Kraft, das Gefühl, aus sich selber eine sportliche Stärke rauszuholen. Meine Erfahrung im Sport war früher eher negativ. Man hat schnell ein Stigma weg, auch von Sportlehrern.» Beim Boxen war das anders: «Der Reiz war da, ich habe es probiert, und es war gut.»

Boxkerl und Vereins-Vize Michael, ursprünglich aus Wien, wohnt seit über drei Jahren in Berlin. Der 55-Jährige war Lehrer, Erdkunde und Geschichte, macht jetzt seine zweite Ausbildung als Krankenpfleger. Kickboxen, Mixed Martial Arts, hat er alles schon probiert. Aber es war immer schwierig, einen Trainer zu finden, mit dem er zufrieden war, weil er selbst als Skilehrer und Volleyballtrainer gearbeitet hat. «Daher habe ich hohe Ansprüche.»

«Bis ich mir überlegt habe, was ich im Fall eines Angriffs mache, hat mir der andere schon fünf Zähne rausgeschlagen.»

Wer prügeln will, interessiert sich nicht für Technik «Boxen ist extrem technisch», findet Michael. Er, der aus der Stadt der Bälle kommt, vergleicht es gerne mit Tanzen. «Die Schritte, die Abläufe – man muss sich da sehr konzentrieren.» Vorteil: Wer sich für Technik nicht interessiert, der kommt hier nicht her. «Sowas interessiert die Leute nicht, die nur schlagen oder prügeln wollen.»

Regelmässig erhalten die Boxkerle Anfragen von potenziellen Neumitgliedern. In anderen Vereinen haben sie Hemmungen, sich zu outen. Oft kommen junge Schwule Anfang 20 vorbei, schauen sich das Training an. Viele bleiben. Sie sagen: «Auf andere einschlagen, damit habe ich ein Problem. Mehr als damit, selber Schläge einzustecken.»

So geht es auch Marco: Er wurde einmal in einem Fitnessstudio körperlich angegriffen. «Ich konnte mich nicht wehren, geschweige denn: decken», sagt der 45-Jährige. «Bis ich mir überlegt habe, was ich im Fall eines Angriffs mache, hat mir der andere schon fünf Zähne rausgeschlagen. Ich dachte: Jetzt muss ich mal was machen.»

Doppelte Angriffsfläche: schwul und positiv Er hat sich verschiedene Boxvereine angesehen, Probetrainings mitgemacht. Die Stimmung war ihm meist nicht geheuer. «Ich dachte: Wenn hier rauskommt, dass ich schwul bin und dann auch noch positiv – die würden mich mit brennenden Fackeln aus der Stadt jagen!» Mit den Boxkerlen hat er endlich einen Verein gefunden, in dem er sich wohl fühlt und so sein kann, wie er ist.

Als potenzielle Verteidigungstechnik will Trainer Felix seinen Sport nicht betrachten. Aber etwas Empowerndes, das hat es für ihn schon. Durch Boxen kann man das eigene Selbstbewusstsein stärken. Dazu hat es für ihn eine intellektuelle Komponente. «Wenn du im Ring bist, musst du schauen: Was plant der Gegner? Man muss den Angriff vorausahnen und eine mögliche Verteidigungstechnik in petto haben. Die Schlagschnelligkeit, schnell vor, schnell zurück, die Beinarbeit, Du musst Kondition haben. Es ist so eine Vielfalt, die den Sport ausmacht, das erschliesst sich auch nicht jedem.»

Boxen muss gut aussehen Für ihn ist es wichtig, dass die Männer im Verein die Sportart lernen. «Das ist mein Anspruch: Gutes Boxen. Es soll technisch gut aussehen.» Oder wie es Muhammad Ali einst ausdrückte, 1964, bevor er gegen Sonny Liston antrat und ihn als Weltmeister entthronte: «Schwebe wie ein Schmetterling, stich wie eine Biene.»

Auf die Titel, die Felix als junger Mann gewonnen hat, ist er vor allem aus einem Grund stolz: Weil er das Vorurteil, dass Schwule nicht boxen können, widerlegen möchte. «Mein Training ist deshalb vielleicht auch ein bisschen strenger und härter. Immerhin habe ich als offen schwuler Boxtrainer bereits bei einigen Hetero-Boxvereinen als Trainer gearbeitet. Und die haben mich garantiert nicht angefragt, weil ich schwul bin», sagt er lachend.

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Für ihn ist Boxen für Schwule «die demonstrative Infragestellung eines tradierten männlich-patriarchalischen Selbstverständnisses, das sich per se als kraftvoll, dominant, heterosexuell und mutig wahrnimmt und erlebt, wohingegen der homosexuelle Mann per se als schwach, devot, feminin und ängstlich wahrgenommen und gelabelt wird». Stigmata könne man nur durchbrechen, indem man sie widerlege. Darum habe er sich auch gefreut, als Adolf Angrick, Ex-Nationaltrainer des Deutschen Boxverbandes, ihm gegenüber versichert habe, er begrüsse es, «dass es jetzt auch einen Verein für homosexuelle Männer gibt, wo sie den Boxsport betreiben können».

Denn es ist ja ähnlich wie im Fussball: Man findet unter den Männern nicht einmal eine Handvoll geouteter Profis. Zehn Jahre ist es mittlerweile her, dass sich der Federgewichtler Orlando Cruz aus Puerto Rico outete. Er sei ein «stolzer, schwuler Mann» in einem machomässigen Sport. Und im Jahr 2018 stieg mit Patricio Manuel in den USA erstmals ein trans Boxer in den Profiring – und gewann (MANNSCHAFT berichtete).

Krav Maga brutal und dreckig Julius boxt erst seit sechs Monaten mit. Vorher hat er unter anderem Krav Maga trainiert. Eine Selbstverteidigungstechnik aus Israel, bei der auch Tritte erlaubt sind, etwa zwischen die Beine oder gegen das Knie. «Im Grunde ist Krav Maga brutal und dreckig und läuft eher intuitiv, fast ohne Regeln», sagt er, bevor er mit Michael in den Ring steigt. Es ist Julius, der am meisten austeilt, während seine Füsse vor und zurückfedern. Seine Schläge zielen mal Richtung Gesicht, mal auf die Brust, aber sein Trainingsgegner hält die Deckung oben. Gelernt ist gelernt.

Nächstes Jahr will Julius an der ersten Gay Boxing Weltmeisterschaft teilnehmen, im Februar in Sydney. Mit 35 ist er eigentlich in einem Alter, in dem man mit Wettkämpfen aufhört. Aber ums Gewinnen geht es dem Einkäufer aus Berlin gar nicht.

«Ich will da hin und eine gute Figur abliefern. Es soll gezeigt werden: Diskriminierung hat im Kampfsport nichts zu suchen.»

«Schwule Sport­verbände sagen: Kampfsport wollen wir nicht.»

Und die gibt es seiner Erfahrung nach gleich doppelt. «In den Kampfsportvereinen heisst es: Schlag mal nicht zu wie eine Schwuchtel! Andererseits sagen die grossen schwulen Sportverbände: Kampfsport wollen wir nicht. Das ist brutal und passt nicht ins unser Bild von Frieden und Harmonie.»

Tatsächlich war Boxen noch nie eine Disziplin der EuroGames, immerhin aber 2018 bei den Gay Games in Paris – eine Premiere. Die Stadt kann aber auch mit einem LGBTIQ-Boxclub namens Paname aufwarten. Bei den Spielen in Hong Kong, die gerade von diesem Jahr auf 2023 verschoben wurden, wird nicht geboxt. Warum, ist unklar. Unsere Anfrage beim Dachverband der Federation of Gay Games (FGG) blieb unbeantwortet.

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Gay Boxing Championships kommt 2023 Michael Stark, der die Gay Boxing Championships in Sydney organisiert (MANNSCHAFT berichtete), hat auch keine Erklärung, warum die Gay Games in Hong Kong Boxen nicht im Programm haben. «Mir ist bewusst, dass bei Sportveranstaltungen die Anzahl von Sportarten begrenzt ist, die abgehalten werden können», sagt er gegenüber MANNSCHAFT. «Wir haben eine ausgezeichnete Beziehung zur Federation of Gay Games und sind assoziiertes Mitglied.»

Eines Tages, so hofft der Australier, werden LGBTIQ an Mainstream-Meisterschaften teilnehmen können, ohne Homo- oder Transfeindlichkeit zu erleben. Dann brauche es so etwas wie queere Boxing Championships nicht mehr. Bis dahin wünscht er sich, dass sich sowohl Sportvereine wie auch LGBTIQ-Communitys für sein Vorhaben begeistern können.

Um es mit Muhammad Ali, dem boxenden Philosophen zu sagen: «Wenn mein Kopf es sich ausdenken kann, wenn mein Herz daran glauben kann – dann kann ich es auch erreichen.»

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