«Softpornös»: Eine total queere Version von «Bridgerton»?
Mit dem Roman «Something Fabulous» liefert Alexis Hall jene LGBTIQ-Repräsentation, die die Netflix-Serie vermissen lässt
Über den Netflix-Erfolg «Bridgerton» und die Weise, wie da eine Geschichte aus der Regency-Ära Grossbritanniens neu erzählt wird, wurde schon viel geschrieben. Besonders LGBTIQ-Medien haben ihren Frust öffentlich gemacht, dass in der Serie so viel für Diversität getan wird, aber kaum Homosexualität vorkommt, in Staffel 2 schon gar nicht. Dafür gibt’s verblüffende Alternativen.
Die Nachrichten zu «Bridgerton» überschlugen sich in den letzten Tagen. Erst gewann das inoffizielle «Bridgerton»-Musical der Autorinnen Abigail Barlow und Emily Bear bei den Grammys den Preis für «Best Musical Theatre Album» und stach dabei sogar Andrew Lloyd Webber und sein queeres «Cinderella»-Musical aus. Was Lord Lloyd Webber nicht davon abhielt, Werbung fürs «Bridgerton»-Musical auf seinen Social-Media-Kanälen zu machen. Es wäre nicht überraschend, wenn er das bislang nur als Concept-Album vorliegende Stück als Produzent auf die Bühne brächte.
Dann meldeten mehrere Medien, dass der schwule Schauspieler Jonathan Bailey – der in «Bridgerton» extrem erfolgreich den heterosexuellen Lord Anthony Bridgerton spielt und in Staffel 2 mit Kate Sharma in eine Liebesgeschichte verwickelt ist – auch in Staffel 3 dabei sein wird. Und damit nicht wie Regé-Jean Page nach Ende seiner Liebesgeschichte aus der Serie rausfliegt.
Bailey ist ein Paradebeispiel, dass ein «out & proud» Schauspieler ohne jegliche Probleme überzeugend einen Heteromann spielen und damit weibliche Fans in Verzücken versetzen kann. (MANNSCHAFT berichtete darüber, dass er auch als neuer James Bond im Gespräch ist.) Schwule männliche Zuschauer kann sein Anblick natürlich auch verzücken, nicht nur, wenn Bailey in Staffel 2 nass aus dem Wasser kommt und ihm dabei ein weisses Hemd nass am Körper klebt. Der Spiegel spricht angesichts solcher und ähnlicher Szenen von «softpornös».
Übrigens: Wer Jonathan Bailey in einer schwulen Rolle sehen will, kann ihn aktuell in London live im Theater in einer Produktion des Stücks «Cock» bewundern (MANNSCHAFT berichtete) oder in der grandiosen Serie «Crashing» neben Phoebe Waller-Bridge (bekannt aus «Fleabag»).
Der Duke of Malvern entdeckt seine Gefühle Wer nicht darauf warten will, bis Staffel 3 von «Bridgerton» raus ist und dann möglicherweise wieder keine LGBTIQ-Elemente enthält – trotz wiederholter Versprechen der Serienmacher*innen, dies am bisherigen Storytelling zu verändern –, der kann sich auf den soeben erschienenen Roman «Something Fabulous» von Alexis Hall stürzen. Das ist vielleicht keine grosse Literatur (definitiv nicht). Aber es ist eine rundum queere Antwort auf alles, was bei «Bridgerton» an LGBTIQ-Inklusion fehlt.
Denn in dieser ebenfalls im Regency-Zeitalter spielenden Geschichte erfährt man gleich in einer Vorbemerkung des Autors: «Einige Sprachwendungen sind bewusst modern. Ausserdem ist fast jeder in diesem Buch queer.»
Es geht um das Zwillingspaar Arabella und Bonaventura Tarleton. Beide sind verwaist und verarmt, was kompensiert werden soll, indem Arabella den Duke of Malvern heiratet – ein Plan, den die Väter der beiden Parteien sich noch zu Lebzeiten ausgedacht hatten, als sie die Kinder einander versprachen. Wie sich herausstellt, ist der Duke alias Valentine jedoch nicht sonderlich an Frauen interessiert und Arabella eher an ihrer besten Freundin Peggy-in-Männerkleidern. Mit ihr flieht sie vor Malvern und seinen Heiratsplan, auf den er sich Jahre später – im Alter von 28 sexlosen Jahren – besinnt, weil er meint, eine solche Hochzeit würde gesellschaftlich von ihm erwartet.
Beim Versuch, Arabella aus Pflichtgefühl zurückzuholen, eilt der Duke mit Arabellas schwulem Bruder Bonny hinterher. Und entdeckt auf dieser Selbstfindungsreise seine tiefe Zuneigung zum flamboyanten Bonny – der alles ist, was der verklemmte (aber attraktive und schwerreiche) Valentine sich nicht traut zu sein. Das klingt nach Groschenroman – und ist es auch. Allerdings genauso bonbonbunt und popartig erzählt wie «Bridgerton» das visuell tut. Und genauso «softpornös»!
Fiktion und «Wishful Thinking» Dabei ist es teils zum Schreien komisch, dass in dem Buch wirklich jede Figur, der man im Regency-England des frühen 19. Jahrhundert begegnet, LGBTIQ ist. Und dass letztlich niemand damit ein ernsthaftes Problem hat – was genauso «realistisch» ist, wie die schwarze Königin Charlotte von England in «Bridgerton» (gespielt von Golda Rosheuvel) sowie das Color-blind-casting in der Netflix-Serie. Damit bekommen in Staffel 2 besonders Menschen aus Südostasien die lange überfällige Sichtbarkeit in einem Mainstream-Hit, was viele Aktivist*innen als positiv bewertet haben. Man muss abwarten, ob zukünftige Generationen diese Darstellung irgendwann als die «wahre» Geschichte ansehen, auch wenn sie nur Fiktion und «Wishful Thinking» ist, mit einem weltverbessernden Ansatz. (MANNSCHAFT+ berichtete über queere Figuren in historischen Serien.)
Eine sehr viel näher an der historischen Wahrheit angesiedelte Serie zum England des 19. Jahrhunderts ist «Gentleman Jack» über die reale historische Figur Anne Lister. Eine lesbische Frau aus den 1830er-Jahren, von der die Tagebücher erhalten sind, über die wir viele private Details aus dem Alltag einer lesbisch lebenden Frau in jener Epoche wissen. Staffel 1 der Serie zeigte das 2019 grandios und detailliert (mit Suranne Jones als Anne Lister). Die zweite Staffel wird am 10. April auf BBC One erwartet.
Wann und wie sie in die Schweiz oder nach Deutschland und Österreich kommt, bleibt abzuwarten. Man kann Staffel 1 auf DVD kaufen. Und ob’s von «Something Fabulous» irgendwann einmal eine Serien-Version geben wird, darf man glecihfalls gespannt abwarten – vielleicht mit Jonathan Bailey als Valentine?
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