Sextoys, Gummis und Massageöle: Zu Besuch bei Madame Condomeria
Wie hat sich das Bewusstsein für Sex und Lust in der Gesellschaft entwickelt?
Erika Knoll führt seit 15 Jahren die Condomeria, ein Fachgeschäft für Kondome und Erotikartikel in Zürich. Einst als Aufklärungs- und Präventionsprojekt während der Aids-Epidemie gegründet, ist es heute eine Referenz für Verhütung und Erotik. Welche Bedeutung hat das Kondom in Zeiten von PrEP und wirksamer HIV-Therapie? Eine Spurensuche.
Es ist ein vergleichsweise ruhiger Nachmittag im sonst geschäftigen Zürcher Niederdorf, das einzig Laute befindet sich unmittelbar vor der Condomeria: eine Baustelle, die in den nächsten Monaten für neue Pflastersteine sorgen soll. Einmal eingetreten und Türe geschlossen, hört man den Lärm immer noch. «Vergiss es, wir sind in der Altstadt», winkt Erika ab. Sichtlich wohl fühlt sie sich hinter dem Tresen ihres kleinen Reiches Condomeria: Rechts von ihr ein Wandregal mit Sextoys in allen Farben und Formen, links eine Wand voller Kondome für alle möglichen Bedürfnisse, dazwischen plüschige Handschellen, Nippel-Aufkleber, Massageöle und -kerzen, Teigwaren in Penisform und vieles mehr.
Genauso wie das Sortiment ist auch die Geschäftsführerin selbst eine Erscheinung: strahlendes Lachen, farbenfrohe Tattoos, die unter schwarzer Kleidung hervorschauen, und eine goldene Halskette, die eindeutig einer BDSM-Peitsche nachempfunden ist («Die Einen merken’s nicht, die Anderen sprechen mich drauf an oder lächeln einfach vor sich hin», sagt sie). Wenn sie von der Geschichte des Ladens erzählt, tut sie das bescheiden, aber nicht ohne Stolz.
Ihr guter Freund Heinze Baumann führte ab 1989 mehrere Geschäfte und bot darin Kondome, Gleitmittel und eine Handvoll Spassartikel an. Erika unterstützte ihn dabei und bot gleichzeitig Sex-Workshops für Frauen an, die damals um einiges nötiger gewesen seien als in der heutigen Feminismuswelle, wobei ihr der Laden in Sachen Arbeitstools sehr behilflich war.
Mit der Zeit etablierte sich die Condomeria, unter anderem auch für die schulische Aufklärung, für welche ein Verhütungsmittel-Koffer kreiert wurde. Dies änderte sich erst, als Vereine wie «Lust und Frust» begannen, diese Arbeit zu übernehmen. Von der Arbeit mit Kindern ist noch das Sportlager der Stadt Zürich übriggeblieben, in dem Erika zusammen mit anderen jährlich vor Ort ist.
Leidenschaftliches Engagement Als die Condomeria entstand, war HIV noch ein sicheres Todesurteil und in der Bevölkerung herrschte grosse Unsicherheit: «Man hat sich Gedanken gemacht, die heute unvorstellbar sind, etwa ob man sich über Mückenstiche anstecken kann.» Kondome waren zwar in aller Munde, aber nur in Apotheken erhältlich. Mit dem Angebot in Supermärkten oder bei Snackautomaten ist die Hemmschwelle heute deutlich niedriger, war damals aber noch lange nicht in Sicht.
Es sei eine intensive Zeit gewesen, meint die 63-Jährige: Das intensive Feiern einerseits durch die Anfangszeit des Technos, das intensive Sterben in der Community andererseits. «Als queere Frau war diese Community damals meine Wahlfamilie und es fühlte sich an, als würde sie mir langsam wegsterben», erzählt Erika und wird nachdenklich.
Ausserdem habe sich lange das Vorurteil gehalten, dass HIV nur «Schwule und Junkies» betreffe – bis man gemerkt habe, dass auch Heteros durch Bluttransfusionen und queere Affären durchaus gefährdet waren. Jedenfalls war es mit dem unbeschwerten Sex vorbei, denn erstmal brachte man diesen mit Tod in Verbindung.
Dies bestätigt auch Andreas Lehner, Geschäftsleiter der Aids-Hilfe Schweiz; jahrzehntelang sei die Sexualität von schwulen Männern vom Sicherheitsgedanken überschattet gewesen. «Erst die PrEP hat uns wieder die Möglichkeit gegeben, während des Aktes nicht an den Schutz denken zu müssen», stellt er fest. Allerdings sei sie auch kein Allheilmittel (dazu später mehr).
Die Aids-Krise sei jedenfalls nur ein Teil des Auslösers gewesen für Erikas Engagement. Ihr ist es wichtig zu betonen, dass sie seit jeher ein quicklebendiges Sexualleben gehabt und ihre Berufung folglich immer auch eine sehr lustvolle Seite gehabt habe. Dieser Aspekt sei mit der Zeit auch mehr und mehr zum Tragen gekommen: die Allgegenwärtigkeit von Kondomen wurde in den letzten Jahren vom Sextoy-Trend abgelöst. Junge Frauen hätten irgendwann aufgehört, sich für Masturbation zu schämen und angefangen, sich gegenseitig Vibratoren zu schenken. Ausserdem seien sie in Sachen Schwangerschaftsverhütung selbstbestimmter geworden: Wo man früher widerstandslos die Pille und deren Nebenwirkungen in Kauf nahm, steht man heute für die eigene physische und mentale Gesundheit ein.
Die haben gemerkt, dass sie nicht schlagartig schwul werden, sobald sie sich penetrieren lassen und sogar Gefallen daran finden
«Zu mir sind auch schon Teenager gekommen, die die Pille gegen Akne verschrieben bekommen hatten und genug hatten von Traurigkeit und schwacher Libido», berichtet Erika kopfschüttelnd. In ihrer Kundschaft seien alle Geschlechter und Orientierungen vertreten, sogar für heterosexuelle Männer seien Sextoys seit einer Weile kein Tabu mehr – auch anale nicht. «Die haben gemerkt, dass sie nicht schlagartig schwul werden, sobald sie sich penetrieren lassen und sogar Gefallen daran finden», lacht Erika.
Die ganze Palette an Kund*innen Überhaupt sei die Condomeria immer ein Ort für Menschen und nicht für Schubladen gewesen. Man glaubt es ihr gerne, wenn man ein paar Stunden lang mit ihr im Laden steht: Vom verunsicherten Teenie auf der Suche nach der richtigen Gummigrösse über kichernde Mädchengruppen bis zum einsamen alten Mann, der nur einen Schwatz braucht, ist so ziemlich alles dabei. Eine Altersbeschränkung gibt es jedenfalls nicht, da man hier nichts Pornografisches findet.
Erika erzählt auch von einer interessanten Neuerscheinung, die sie besonders freue: Junge Menschen aus der Sexpositivity-Bewegung. Grundsätzlich ist sie überzeugt, dass es die Institution vor allem deshalb immer noch gebe, weil man hier Fachwissen und persönliche Beratung kriege. Beispielsweise die Krebspatientin, die aufgrund der Behandlung eine verengte Vagina habe, oder der ältere Herr mit dem Prostataproblem. «Meine Erfahung zeigt, dass ich als Frau die bevorzugte Ansprechpartnerin bin für alle Geschlechter», sagt Erika.
Frauen oder FLINTA-Personen liessen sich nicht gerne von einem Mann beraten, wenn es um Sextoys oder Beckenbodentraining gehe – und auch Männer hätten aufgrund alter Geschlechterrollen Hemmungen, mit einem anderen Mann über sexuelle Dysfunktionen zu sprechen, wobei sich das zum Glück langsam ändere. Deshalb wäre es ihr am liebsten, wenn das Geschäft weiterhin von einer Frau geführt werden würde. Denn bald sei die Zeit für den grossen Wandel gekommen: «Ich bin langsam in einem Alter, in dem ich nicht mehr die gleiche Energie zur Verfügung habe wie früher», sagt Erika und wird etwas melancholisch. Darum halte sie Ausschau nach einer 35-40-jährigen Frau, die vielleicht zwei Tage und später dann vier bis fünf Tage pro Woche übernehmen würde.
Man ahnt es schon: Ganz aufhören möchte sie auch trotz Ruhestand nicht, dafür liebt sie ihr «Baby» zu sehr. Sie sei aber durchaus bereit, Kontrolle und Entscheidungen abzugeben, schliesslich würde die Condomeria durchaus frischen Wind vertragen. Wichtig sei nur, sie irgendwie zu erhalten für diejenigen Leute, denen sie ans Herz gewachsen sei, und für alle anderen, die in Zukunft einen Safer Space mit kompetenter Beratung brauchen würden.
Von der Scham, ein Gummi zu nehmen Zurück zum anderen Protagonisten unserer Recherche, dem Kondom. «Natürlich habe ich in meinem privaten Umfeld von PrEP und wirksamen Medikamenten gehört, aber die Auswirkung auf den Kondomverbrauch kann ich tatsächlich zu wenig beurteilen, da die Community andere, schwule Orte bevorzugt», so Erika.
Während eines kleinen Shop- und Saunamarathons stossen wir auf mehrere Betreiber, die uns bestätigen, dass sie immer weniger Kondome bestellen müssten. Auch Melchior Burch, Geschäftsführer und Inhaber vom MZ Shop, verrät uns, dass in den letzten vier bis fünf Jahren die Kondomverkäufe zurückgegangen seien. Das korreliere in etwa mit der Ankunft der PrEP in der Mitte der (schwulen) Gesellschaft: «Wir hören von Kunden, die auf PrEP sind, oft, dass sie deswegen auf das Kondom verzichten. Ich persönlich empfehle es nach wie vor, da PrEP zwar gut gegen HIV, aber nicht vor anderen Krankheiten schützt.»
Drei unvernünftige Gründe, weshalb oft auf das Kondom verzichtet wird: Alkohol, Drogen und die Liebe
Und Andreas Lehner der Aids-Hilfe Schweiz ergänzt: «Wer regelmässig PrEP nimmt, bekommt schnell das S-Wort zu hören, was wir als PrEP-Shaming bezeichnen könnten. Ich habe aber auch Fälle von Kondom-Shaming mitbekommen, zum Beispiel bei Sexpartys, bei denen jemand ausgelacht wurde, weil er ein Kondom benutzen wollte.» Wichtig sei aber unter dem Strich, dass man sich schütze und respektvoll miteinander umgehe, egal wie der Schutz der jeweiligen Person aussehe. Drei klassische Gründe, unvernünftigerweise plötzlich auf das Kondom zu verzichten, liessen sich nicht so schnell ausrotten: Alkohol, Drogen und Liebe.
Der Mythos des Lustkillers Natürlich verlassen wir die Condomeria nicht ohne etwas Insiderwissen: Was für Anliegen haben Kund*innen rund ums Kondom, liebe Erika? «Das Wichtigste: Gummis gibt zwischen Grösse 45 bis 72 mm (Umfang), obwohl wir aus Supermärkten und Apotheken nur die Spanne zwischen 52 und 57 mm kennen.» Das sei verheerend, da viele Menschen mit Penis aufgrund eines zu engen Kondoms zur Überzeugung kämen, dieses sei ein Lustkiller an sich. Dabei leide die Erektion oder das Gefühl nur, weil der Druck auf den Penis und die Blutgefässe zu hoch sei. Und wenn man auch noch lange rummurksen müsse, bis das Kondom abgerollt ist, sei die Ablehnung perfekt; da könne es nur schon reichen, eine Packung von weitem zu sehen, um die Erektion zu verlieren. Doch auch für Leute, die trotz richtiger Grösse zu wenig spüren würden, gebe es Lösungen: extradünne Kondome aus wärmeleitendem Material beispielsweise (genauso wie es extradicke gebe für Zu-viel-Spürende oder Zu-früh-Kommende).
Junge Menschen, die ihre ersten sexuellen Erfahrungen machen würden, seien oft verunsichert oder gar abgestossen von den unbekannten intimen Körpergerüchen. «Da kann ein Gummi mit Erdbeergeruch durchaus helfen», sagt Erika. Nicht zu vergessen sei das Lecktuch für den After beziehungsweise die Vulva, denn auch durch Oralsex würden Ansteckungen passieren.
Die Sonne ist mittlerweile schlafen gegangen an diesem winterlichen Nachmittag, und auch die Baustelle vor dem Haus macht langsam dicht. Jemand anderes hingegen denkt gerade weder ans Schlafen noch ans Aufhören: Es ist Erika Knoll, Madame Condomeria.
Das Kondom
Bereits vor mehreren hundert Jahren wurden Kondome hergestellt, damals aus Schafsdärmen oder anderen tierischen Membranen. Der für seine Liebschaften berüchtigte Schriftsteller Giacomo Casanova soll solche Exemplare verwendet haben, um sich vor der gefürchteten Syphilis zu schützen. Nach der Entwicklung der Vulkanisation konnten Kondome aus Gummi ab 1870 serienmässig hergestellt werden. Im Ersten Weltkrieg gehörten sie zur Standardausrüstung britischer, französischer und deutscher Soldaten. Seit 1930 werden Kondome hauptsächlich aus Latex hergestellt. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts war der Verkauf von Kondomen vielerorts verboten und nur zu medizinischen Zwecken erlaubt, in Irland galt eine entsprechende Regelung sogar bis in die Achtzigerjahre. Nicht ganz geklärt ist die Namensherkunft. Eine Theorie beruft sich auf einen angeblichen Dr. Condom, Leibarzt des britischen Königs Charles II. Eine andere bezieht sich auf die Bezeichnung «con domino» – eine humorvolle Anspielung auf den Kapuzenmantel der Geistlichen. 1987 wurden «AIDS» und «Kondom» zu den Wörtern des Jahres gewählt.
Vielfältige Kondome
MY.SIZE An alle, die «zu wenig fühlen», wenn sie ein Kondom benutzen: Es könnte an der Grösse liegen. Bei My.Size sollte für alle etwas dabei sein.
SKYN Dank dünnem, wärmeleitendem Material garantieren Skyn-Gummis beim Sex ein naturnahes Erlebnis.
MANIX OHNE LATEX Für diejenigen, die Latexgeruch nicht ausstehen können, gibt es latexfreie Kondome von Manix.
FAIR SQUARED Diese Marke bietet faire Handelsbeziehungen, ökologische Verantwortung und ein konsequentes Nein zu Kinderarbeit und Tierversuchen.
NEON VON AMOR Wie es Erika ausdrücken würde: «Wer wollte nicht schon immer mal im Bett das Leuchtschwert schwingen und Star Wars spielen?»
Kondome sind in Frankreich von nun an für junge Menschen kostenlos. Unter 26-Jährige erhalten sie laut Gesundheitsministerium gratis in den Apotheken (MANNSCHAFT berichtete).
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