«Mr. President, werfen Sie mich etwa aus dem Land?»
Interview mit dem neuen US-Botschafter Scott Miller
Seit Februar ist Scott Miller der neue US-Botschafter für die Schweiz und Liechtenstein. Der Einsatz für die Gleichstellung werde nie abgeschlossen sein, sagt der ehemalige Unternehmensberater und Philantrop im Interview.
Herr Botschafter, im Februar haben Sie Ihren Posten in Bern bezogen. Wie war der Start? Sehr intensiv. Obwohl wir mit einer russischen Invasion der Ukraine gerechnet hatten, versuchten wir lange, eine diplomatische Lösung zu finden. Als der Bundesrat beschloss, die Sanktionspakete gegen Russland zu übernehmen, sass ich neben dem ukrainischen Botschafter im Bundeshaus. Es war berührend zu sehen, was dieser Moment für ihn bedeutete und ich wünschte, die ganze Schweiz hätte das miterlebt! Das alles geschah in meinem ersten Monat als Botschafter.
Wie war die Transition von Aktivist zu Botschafter? Den 7. April 2021 werde ich nie vergessen. An diesem Tag rief mich Präsident Joe Biden an und fragte mich: «Scott, bist du bereit, deine Sachen zu packen und in die Schweiz zu ziehen?» Ich sagte: «Mr. President, werfen Sie mich etwa aus dem Land?» Er hatte vergessen, die Rolle des Botschafters zu erwähnen (lacht).
Ich nahm mir einen Tag Zeit, um mir das Angebot zu überlegen. Kann ich in der Schweiz alle Amerikaner*innen repräsentieren und die Zusammenarbeit unserer beiden Länder stärken? Mir wurde klar, dass ich Ähnliches auf nationaler Ebene in den USA schon in meinen 20 Jahren als Philanthrop und Aktivist getan hatte. Auch als Botschafter geht es nicht darum, Andersartigkeiten aufzuzeigen, sondern Beziehungen zu stärken.
Hätten Sie einen Posten in einem Land angenommen, in dem gleichgeschlechtliche Handlungen unter Strafe stehen? Theoretische Annahmen mache ich nur selten, aber vermutlich wäre das gar nicht zustande gekommen. Bevor der Präsident eine*n Botschafter*in nominiert, wird das entsprechende Land gefragt, ob es diese Person in einer diplomatischen Funktion akzeptieren würde. Diese Praxis ist in vielen Staaten üblich. Es ist unwahrscheinlich, dass ein solches Land mich als offen schwulen Botschafter akzeptiert hätte.
Ich bin jedoch der Überzeugung, dass es die Aufgabe einer Regierung und nicht von einzelnen Personen ist, für die Würde, den Respekt und die Existenz sämtlicher Menschen einzustehen. Es liegt also an den USA und an sämtlichen Ländern, die Wert auf Gleichstellung legen, andere Länder dafür zu gewinnen. Ich bin sehr dankbar für meine Aufgabe in der Schweiz.
Wie geht die US-amerikanische Diplomatie mit Ländern um, die LGBTIQ-Rechte mit Füssen treten? Es ist eine Gratwanderung. Einerseits will man die Entwicklung und den Fortschritt des eigenen Landes teilen, andererseits möchte man andere Staaten darin unterstützen, die Wichtigkeit der Gleichstellung anzuerkennen.
Als mein Ehemann vor 30 Jahren seine Stiftung gründete, befürwortete nur ein Viertel der US-amerikanischen Bevölkerung die Ehe für alle. Schon damals und auch dann, als ich vor 20 Jahren in der Stiftung einstieg, folgten wir dem Grundsatz, dass Menschen in zwei Kategorien fallen: Verbündete und künftige Verbündete. Wie sollen sich Menschen ändern, wenn man ihnen nicht den Raum dazu gibt? Darum geht es auch in der Diplomatie – es ist eine Kunst.
Noch vor Deutschland, Österreich und der Schweiz führten die USA die Ehe für alle ein. Sind die USA in LGBTIQ-Rechten voraus? Gleichstellung ist kein Wettrennen. Obwohl ich immer kritisch bin, wenn an der Urne über die Rechte einer Minderheit entschieden wird, war ich sehr glücklich, als die Schweizer Stimmbevölkerung mit über 60% und alle Kantone einstimmig der Ehe für alle zustimmten. Das wäre in den USA heute nicht möglich.
Sprechen wir ein bisschen über die USA: Der Equality Act will Diskriminierung unter anderem aufgrund der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität verbieten, ist zurzeit jedoch im Senat blockiert. Was sind Ihre Prognosen? In unserem Land sind die Gespräche darüber nicht immer sehr einfach. Im Bereich des Schutzes am Arbeitsplatz arbeiten wir seit bald zwanzig Jahren am Equality Act. Nachdem das Repräsentantenhaus das Gesetz verabschiedet hat, ist jetzt unklar, ob im Senat darüber abgestimmt wird. Mit dieser Zusammensetzung des Senats sieht es eher schwierig aus. Der Präsident wird sich weiterhin dafür einsetzen. Der Equality Act ist sehr wichtig, denn die Welt schaut zu.
2021 galt als tödlichstes Jahr für trans Menschen in den USA. Was tun die USA dagegen? Im Rahmen der Präsidentschaftskampagne hatte ich die Gelegenheit, dem damaligen Kandidaten Joe Biden und seiner Frau, Jill Biden, die Stonewall Inn Bar zu zeigen. Ich erzählte ihnen von Marsha P. Johnson und dass trans Aktivist*innen das Fundament des modernen LGBTIQ-Aktivismus bilden. Sie sind die Gigant*innen, auf deren Schultern wir heute stehen. Ich kann und will nichts beschönigen. Der Präsident hat die Statistiken im Auge. Vor allem trans People of Colour werden dafür ermordet, wer sie sind. Die USA müssen dieses Thema an der Wurzel packen.
Wenn Sie auf Ihre Tätigkeit im Vorstand der Gill Stiftung zurückblicken: Was waren Ihre Strategien, wenn es um das Vorantreiben von LGBTIQ-Rechten ging? Wenn ich daran denke, was die USA von der Ehe-für-alle-Bewegung gelernt haben, dann gehört der Prozess des Vertrautmachens dazu. Es geht darum, dass Menschen ihr authentisches Ich teilen – mit der Familie, mit Freund*innen, mit Mitarbeitenden. Neue Gesetze verändern die Einstellung der Menschen nicht. Sobald sie jemanden kennen, sei es bei der Arbeit oder in der Nachbarschaft, können wir etwas in ihren Herzen und in ihren Köpfen bewirken. Ich habe vorhin die zwei Kategorien von Menschen erwähnt: die Verbündeten und die künftigen Verbündeten. Vermutlich gibt es eine dritte Gruppe von Menschen im einstelligen Prozentbereich: Diejenigen, die immer in der Opposition bleiben. Aus diesem Grund können wir nie einen Haken dran machen und sagen, «Jetzt sind wir für immer fertig.»
Dieser Prozess des Vertrautmachens kann aber auch ein unschöner sein. Ich komme aus einer Familie, die mein Coming-out nicht sehr gut aufgenommen hat – ich war mehrere Jahre von ihr entfremdet. Es war ein Prozess, den ich nie wieder durchmachen will und den ich auch niemandem wünschen würde. Und doch kommt es immer noch vor. Man muss Menschen den Raum geben, sich zu verändern und an Situationen anzupassen. Das heisst nicht, dass sie unhöflich oder gar gewalttätig sein dürfen. Begegne ihnen auf halber Strecke und hilf ihnen, sich zu entwickeln. Diese Taktik verwende ich seit jeher als Philantrop und jetzt auch als Botschafter.
«Meine Familie hat mein Coming-out nicht sehr gut aufgenommen.»
Was möchten Sie als Botschafter der USA für die Schweiz und Liechtenstein in Bezug auf LGBTIQ-Themen erreichen? Ich bin vielleicht der schwule Botschafter, aber nicht der Botschafter für alle schwulen Dinge (lacht). Ich vertrete alle Amerikaner*innen und werde versuchen, meine Tätigkeitsbereiche in Einklang zu bringen. Auf der Makroebene möchte ich LGBTIQ-Anliegen im Bezug auf Menschenrechte generell thematisieren und mich für die Würde und die Freiheiten aller Menschen einsetzen. Auf der Mikroebene möchte ich mit meinem Mann sichtbar sein und mich in der Community einbringen – nicht politisch, aber in Form von Gesprächen und im Austausch, sofern ich da behilflich sein kann.
Wie teilen Sie und Ihr Mann Ihre Zeit zwischen den USA und Bern auf? Per Bundesgesetz kann ich mich nur 26 Tage im Jahr ausserhalb der Schweiz aufhalten. Das hatte ich auch berücksichtigt, bevor ich diesen Posten annahm. Ich will nicht der Touristenbotschafter sein, sondern die USA so gut vertreten wie ich kann und Teil der hiesigen Community werden. Tim lebt hier mit mir. Wir sind seit 20 Jahren zusammen und seit 13 Jahren verheiratet. Wir lieben uns immer noch sehr und es ist schwierig für uns, voneinander getrennt zu sein.
Bern wird nächstes Jahr Schauplatz der BernPride und der EuroGames 2023. Mit Ihnen? Natürlich. Ich hoffe, ich werde eingeladen! Ich werde versuchen, an so vielen Prides wie möglich teilzunehmen. Zudem rechne ich damit, dass auch Amerikaner*innen an den EuroGames teilnehmen werden. Vielleicht werde ich sogar am einen oder anderen Lauf teilnehmen.
Scott Miller
Scott Miller stammt aus dem US-Bundesstaat Colorado und begann seine Karriere als Unternehmensberater und Vermögensverwalter. Ab 1994 setzte er sich bei der Gill Foundation für LGBTIQ-Rechte ein, insbesondere bei der Bekämpfung von Konversionstherapien. Die Stiftung wurde von seinem Ehemann Tim Gill gegründet und gehört zu den grössten Förderer*innen von LGBTIQ-Anliegen in den USA. Miller und Gill sind langjährige Unterstützer der Demokratischen Partei und persönlich mit US-Präsident Joe Biden und First Lady Jill Biden befreundet.
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