«Es war unglaublich einsam, als Schwuler in der Türkei aufzuwachsen»
Sarp Kerem Yavuz versteht sich auf verschlüsselte Regierungskritik
Nicht jede Provokation wird als solche erkannt. Die Werke von Sarp Kerem Yavuz drehen sich um Geschlechterrollen, Identität und patriarchale Strukturen. Dabei lässt der Künstler Ironie und Regierungskritik mit Ästhetik und kulturellen Symbolen verschmelzen. Der türkischen Regierung ist der 30-Jährige schon längst ein Dorn im Auge.
Farbige Ornamente auf nackter Männerhaut. Ein Oberschenkel. Ein flüchtiger Blick. Dazu ein pechschwarzer Hintergrund. Auf den ersten Blick lassen sich die Fotografien aus der Serie «Maşallah» («Wie Gott will») des Künstlers Sarp Kerem Yavuz nicht eindeutig zuordnen. Geht es hier um traditionelle islamische Kunst? Ein Experiment mit Projektionen und Aktfotografie? Eine schüchterne Abhandlung über schwules Begehren? Von allem ein bisschen?
Zu raffiniert für die Konfiszierung Wer die Werke des türkischen Künstlers zu entschlüsseln versucht, muss ein kritisches Auge sowie Kenntnisse über die politische Lage in dessen Heimatland besitzen. Erst dann zeigt sich die gesellschaftskritische Brisanz des 30-Jährigen, der oft auch nur unter dem Namen Sarp arbeitet.
Diese Voraussetzungen brachte das Dutzend Polizisten nicht mit, die in Istanbul eine Kunstgalerie stürmten und nach seinen Werken Ausschau hielten. Ihr Auftrag: Die Konfiszierung von Sarps Arbeiten, die von der Regierung als «anstössig» und als «beleidigend gegenüber dem Vermächtnis des ottomanischen Reiches» eingestuft worden waren. Nur: Sarps Ausstellung war bereits ein halbes Jahr zu Ende und abgeräumt – die Polizei kam zu spät und wusste nicht, wonach sie suchen musste. Ob vielleicht das grüne Skelett mit dem traditionellen Ottomanenkostüm im Museumslager der Auslöser für diesen «Affront» war? Eine Figur aus Neonröhren, die wie ein Cartoon aussieht? Die Polizei zog wieder ab, ohne etwas zu beschlagnahmen.
«Man muss ein gewisses Verständnis von Kunstgeschichte mitbringen, um bestimme Formen der Regierungskritik lesen zu können. Die einen sehen in einem Objekt eine Provokation, andere nur eine coole Skulptur», sagt Sarp im Videointerview mit MANNSCHAFT. In den USA ist Mittag, der Künstler befindet sich in seiner Wahlheimat New York. Hin und wieder legt seine Katze vor der Webcam einen Auftritt hin und macht mit eindringlichem Miauen deutlich, das auch sie am Gespräch teilhaben will.
Die Polizeirazzia veranlasste Sarp dazu, für den zweiten Teil der Ausstellung eine Form der Selbstzensur walten zu lassen. Als er für «I think the Sultan knows about us» («Ich glaube, der Sultan weiss über uns Bescheid») nach Istanbul zurückkehrte, versendete er nur Pressemitteilungen auf Englisch. Er lacht: «Die Sprachbarriere war genug, um mich während der ganzen Dauer meines Aufenthalts in Ruhe zu lassen. Als die Regierung wütend auf mich wurde, war ich bereits abgereist.» (Auf diese clevere Art und Weise haben sechs NGOs die türkische Regierung ausgetrickst.)
«Fotos von Polizeigewalt will sich niemand an die Wand hängen.»
Stolz und sichtbar schwul Solche Massnahmen sind für Sarp jedoch die Ausnahme. Viel lieber provoziert er, als sich der Zensur zu beugen. «Vor allem in der Türkei ist mir Sichtbarkeit im Umgang mit den Medien wichtig», sagt er. «Es ist mir wichtig zu betonen, dass ich ein offen schwuler Künstler bin – selbst dann, wenn es um nichts anderes als um Pixelkunst geht.»
Eine solche Sichtbarkeit ist in der Türkei nicht ungefährlich. An Zensur und Morddrohungen hat sich Sarp gewöhnt. «Ich habe ein Gleichgewicht gefunden: Leben und Arbeiten in New York und für Ausstellungen nach Istanbul reisen», sagt er. Die Distanz als Puffer. «Wäre ich in Istanbul wohnhaft, würde ich zur Zielscheibe werden.»
Sarp arbeitete während mehrerer Jahre an der «Maşallah»-Serie. Die Idee dazu kam ihm nach den Protesten im Gezi-Park 2013. Die Polizei hatte seine Freund*innen verprügelt und Tränengas eingesetzt. «Ich wollte einen visuellen Weg finden, um das politische Geschehen darzustellen. Es ist unmöglich, darüber einen Diskurs zu führen, da die Öffentlichkeit von diesen Nachrichtenbildern desensibilisiert wurde», sagt er. «Fotos von Polizeigewalt will sich niemand an die Wand hängen. Mit ‹Maşallah› will ich dem Gespräch einen grösseren Platz einräumen. Das erhoffe ich mir jedenfalls.»
Bruch mit der Familie Es sei unabdingbar, in der Türkei über Homosexualität zu sprechen. «Ich kann nicht in Worte fassen, wie unglaublich einsam es war, als schwuler Junge in der Türkei aufzuwachsen. Ich konnte mit niemandem darüber reden», sagt er. Er sei ein «grosses Glück» gewesen, dass er nach der Scheidung seiner Eltern mehrheitlich bei seiner Mutter aufwuchs – eine «offene, progressive und sehr liberale Frau».
Die Familie seines Vaters ist hingegen stark muslimisch geprägt. Sarp war noch ein Junge, als ein Onkel väterlicherseits sein zeichnerisches Talent bemerkte. Er könne doch Modedesigner werden, solange er nicht schwul werde wie derjenige, der immer im Fernsehen zu sehen sei. Da schaltete sich die Grossmutter, die Mutter seines Vaters, ein: «Das wird er nicht. In unserer Familie sind alle rein.» Der Kommentar lässt ihn bis heute nicht los.
Ob dieser Teil der Verwandtschaft heute über seine Sexualität im Bild sei, weiss Sarp nicht. «Aufgrund der Medienberichte vermutlich schon», sagt er. «Ich stand ihnen nie besonders nahe, so dass es mich stören könnte.»
Sein Vater habe sich «offen» und «empfänglich» gezeigt, nachdem Sarp mit 17 Jahren das Coming-out wagte. «Als er ein Jahr später betrunken war, machte er mir ziemlich deutlich, dass er ein Problem damit hatte.» Seit 2010 haben die beiden keinen Kontakt mehr.
Mit amerikanischen Sportlern in der Umkleide Statt Kunst und Kreativität waren es internationale Beziehungen, die in Sarps Kopf umherschwirrten, als er 2009 die Türkei für ein College in den USA verliess. Er wollte Politikwissenschaften studieren und später für die Vereinten Nationen oder für ein Kriminalgericht arbeiten. «Meine Mutter studierte Jura, in unserer Familie gibt es eine lange Tradition von Diplomaten und Politikern», sagt Sarp. Ein Kunstfach an der Uni machte seinen Plänen einen Strich durch die Rechnung. «Ich merkte plötzlich, wie glücklich es mich machte, den ganzen Tag zeichnend im Atelier zu sein.» Er entschied sich für die Schwerpunktfächer Politikwissenschaften und Kunst. Als er je einen ganzen Tag und eine ganze Nacht für die Abschlussarbeiten aufwendete, wurde ihm klar, in welche Richtung er gehen würde. Es folgte ein Master in Fine Art am Art Institute of Chicago.
Bereits in seinen Studienarbeiten setzte sich Sarp mit Geschlechterrollen auseinander. Für die Fotoserie «In the closet» lichtete er Freunde – US-amerikanische Universitätssportler – in intimen Situationen in der Garderobe ab. «Formen der amerikanischen Männlichkeit hatten mich lange fasziniert, weil sie mir unantastbar erschien. Indem ich mit meinen Freunden in der Garderobe stand und sie fotografierte, wurde die Situation für mich homoerotisch – für sie nicht», sagt Sarp. «Mir wurde schnell bewusst, dass das alles eine Illusion ist. Mit anderen Worten: Wenn ein Baum im Wald fällt, ist er wirklich gefallen? Klatscht ein Footballer seinem Mitspieler auf den Hintern, ist das dann wirklich schwul?»
Mit seinen Freunden setzte Sarp auch das Werk «Substitutes for my father» («Ersatz für meinen Vater») um. Er fotografierte sie, während sie von der Beziehung zu ihren Vätern sprachen. Was das in ihnen auslöste, überraschte ihn: Die Gespräche waren tiefgründig und emotional, einige dauerten drei bis vier Stunden. Mit der Serie verarbeitete Sarp seine eigene Beziehung zu seinem Vater. «Ich erhoffte mir, dass ich meinem Vater verzeihen könnte, wenn ich mich in den Gesprächen wiederfinden würde. Mir ist das auf mehrere Wege gelungen», sagt er.
Ausstellungen in Deutschland Sarps Werke, darunter «Maşallah», «In the closet» und die Ottomanenskelette, sind bereits mehrfach ausgestellt worden, etwa in Europa, Asien und im Mittleren Osten. Im Frühjahr 2021 widmete ihm die Galerie Anna Laudel in Düsseldorf die Soloausstellung «Der letzte Orientalist». Wegen der Pandemie konnte Sarp selbst nicht vor Ort sein. Er hofft, dies im kommenden Jahr im Rahmen einer weiteren Ausstellung in Deutschland nachholen zu können. Genaueres dazu kann er zurzeit noch nicht sagen. Demnächst stellt Sarp sein erstes Lego-Objekt vor, das von byzantinischen Mosaiktraditionen inspiriert wurde.
Vor weiteren Ausstellungen in Istanbul hat Sarp keine Angst. «Als schwuler Künster bin ich freier als vielleicht ein Buchhalter, der in einem grossen Konzern arbeitet», sagt er. Trotz den Bestrebungen der Regierung, queere Lebensweisen zu unterdrücken, habe die Türkei auch gute Entwicklungen durchgemacht. Noch vor zehn Jahren sei es unvorstellbar gewesen, eine App zu öffnen und dort andere LGBTIQ-Menschen zu sehen. «Niemals hätte ich geglaubt, dass so viele Leute bereit wären, ihr Gesicht offen auf Tinder zu zeigen. Es ist fantastisch.»
Queere Menschen sind in der Türkei weit über Apps hinaus sichtbar geworden: in den sozialen Medien, in Zeitungen, im Fernsehen. Nachdem die offen lesbische Volleyballspielerin Ebrar Karakurt mit ihrem Team an der EM 2019 die Silbermedaille holte, ernannte eine türkische Shampoo-Marke sie zur Botschafterin und drehte mit ihr einen Werbespot. In einer Kolumne für die türkische Ausgabe des Magazins GQ zelebrierte Sarp diese Entwicklung als beispiellos, als Schritt in eine positive Richtung. Doch der Text erschien nicht. «Der Redaktor sagte mir, dass sie das so nicht veröffentlichen könnten», sagt er. «Aber so ist das in der Türkei. Man macht zwei Schritte nach vorne und einen zurück.»
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