Russland: LGBTIQ-Repressionen im Windschatten des Krieges
«Dieser Hass wird erst aufhören, wenn wir einen neuen Präsidenten haben»
Im Windschatten des Krieges gegen die Ukraine geht Russland zuhause verstärkt gegen gesellschaftliche Vielfalt vor. Ein neues Gesetz macht nicht-heterosexuellen Menschen ein normales Leben fast unmöglich. Jurist*innen und Betroffene befürchten: Das ist erst der Anfang.
Von Hannah Wagner, dpa
Das knallpinke Tuch bindet sich Sabrina erst auf den kahl rasierten Kopf, als er*sie im Café am Tisch sitzt. Er*sie hat auch kleine Strasssteinchen zum Aufkleben dabei, aber letztlich landen die doch nicht in ihrem Gesicht, sondern wieder im Rucksack. Sabrina muss später noch in die Uni. Der*die 21-jährige Moskauer*in ist nicht-binär. Diese Identität sowie den weiblichen Vornamen nennt er*sie allerdings nur vor ausgewählten Leuten.
Im Alltag gibt er*sie sich oft als der junge Mann aus, für den die meisten ihn*sie äusserlich halten – aus Sicherheitsgründen. Menschen wie Sabrina sind in Russland starken Repressionen und immer wieder auch Gewalt ausgesetzt. Ein neues Gesetz dürfte das noch drastisch verschlimmern.
Das Gesetz über «LGBTIQ-Propaganda», das das russische Parlament kürzlich verabschiedet hat, ist eine weitreichende Verschärfung einer bereits vor Jahren erlassenen Regelung (MANNSCHAFT berichtete).
Bislang machte sich strafbar, wer Homosexualität und Transgeschlechtlichkeit angeblich vor Minderjährigen «bewarb». Schon das wurde international heftig kritisiert. Nun drohen für jegliche positive Darstellung dieser Themen hohe Geldstrafen.
Das Gesetz zielt auf Medien-, Literatur- und Filminhalte, Werbung und persönliche Beiträge in sozialen Netzwerken. Menschenrechtler*innen, aber auch Künstler*innen und Verlage schlagen Alarm.
Sabrinas Mutter glaubt noch immer, sie habe einen Sohn Sabrina ist es gewohnt, sich zu verstecken. Homosexualität und Transgeschlechtlichkeit selbst sind in Russland zwar nicht strafbar, doch die Gesetzeslage ist ein Nährboden für Hetze und Übergriffe. «Man beleidigt uns, man vergewaltigt uns, man bringt uns um», sagt Sabrina. An der Uni sprechen alle Dozent*innen Sabrina mit dem männlichen Vornamen an, der im Pass steht. In diesem Artikel geschrieben sehen möchte Sabrina den nicht. Selbst Sabrinas Mutter glaubt noch immer, sie habe einen Sohn.
«Manchmal fühle ich eine Art Verlorenheit, Hoffnungslosigkeit», sagt der*die Student*in. Kraft geben Sabrina Besuche in Nachtclubs, die sich gezielt an ein queeres Publikum richten. Dort kann Sabrina High Heels tragen, Rock und Make-up. Doch ob diese Orte das neue Gesetz unbeschadet überleben werden, ist mehr als fraglich. «Wir haben gedacht, entschuldige, aber: Was für eine Scheisse!», erinnert sich Sabrina an den Tag, als die Staatsduma für die Regelung stimmte. Einige Bekannte hätten aus Angst umgehend das Land verlassen.
Weil das Gesetz so offen formuliert ist, könnte es theoretisch auf alle möglichen Handlungen angewendet werden, erklärt der Jurist Wladimir Komow von der Organisation «Delo-LGBT+» – ob auf schwule und lesbische Liebesgeschichten in Kinofilmen oder auf Fotos in sozialen Netzwerken. Er geht davon aus, dass vor allem in der ersten Zeit in hoher Anzahl Privatpersonen verurteilt werden, um ein Exempel zu statuieren. «Alle sind gerade in heller Panik. Der erste Teil ist also schon erreicht», fügt seine Kollegin Jekaterina Seleznewa hinzu.
Filme und Bücher mit entsprechenden Inhalten werden wohl nicht mehr veröffentlicht werden, mutmasst sie. Clubs werden abtauchen, um nur noch für Eingeweihte auffindbar zu sein. «Es wird Kassen wie auf dem Schwarzmarkt geben.»
Queeren Menschen vor Gericht Die Jurist*innen sitzen in ihrem kleinen Bürozimmer in einem Hinterhofhaus, draussen dämmert es. Beide vertreten queere Menschen vor Gericht – beispielsweise, wenn diese erpresst, ausgeraubt oder zusammengeschlagen wurden. An der Wand hängt ein Plakat mit Regenbogenfarben. Im öffentlichen Raum ist dieses Symbol der queeren Community schon lange nicht mehr sichtbar.
Dass die Repressionen ausgerechnet nun so zunehmen, bringen Komow und Seleznewa auch mit dem von Kremlchef Wladimir Putin vor mehr als neun Monaten angeordneten Krieg gegen die Ukraine in Zusammenhang. «Es wird ein Feindbild geschaffen und dann kann man sagen: ‹Schaut, wir haben diesen Feind besiegt, und das heisst, wir können auch andere Feinde besiegen›», meint Seleznewa.
Putin selbst lässt keine Gelegenheit aus, sich über Homosexualität und Transgeschlechtlichkeit als Zeichen «liberaler westlicher Verkommenheit» lustig zu machen. Das Herumhacken auf Minderheiten bringt ihm wieder Beifall von Traditionalisten ein.
Flucht ins Ausland Das neue Gesetz sei Teil der Etablierung von staatlicher Zensur, sagt Komow – und glaubt kaum, dass es dabei bleibt: «Dieser Schritt ebnet den Weg zur Einführung einer staatlichen Zensur auch in anderen Bereichen.» Dass der Kreml es beim Gesetz belässt, bezweifelt auch der schwule Filmemacher Konstantin. Der 39-Jährige ist vor zwei Monaten nach Montenegro geflohen, als in Russland Hunderttausende Männer für die Front eingezogen wurden. Nun traut er sich auch wegen der neuen Gesetzeslage nicht mehr zurück.
«Die Stigmatisierung eines einzelnen Teils der Gesellschaft wird unweigerlich das immer weitreichendere Ausschliessen derjenigen nach sich ziehen, die nicht richtig lieben, nicht richtig sprechen, nicht richtig denken», meint Konstantin. «Ich denke, dass uns Dinge erwarten, die noch menschenverachtender sein werden.»
Auch andere haben keine Hoffnung auf eine baldige Verbesserung der Lage. «All dieser Hass wird erst aufhören, wenn wir einen neuen Präsidenten haben», sagt Sabrina. Er*sie will nach dem Uni-Abschluss im kommenden Jahr auswandern – am liebsten nach Deutschland.
Homoerotische Propagandaposter aus der kommunistischen Vergangenheit wurden von Aktivist*innen zum Protest gegen die Homophobie der russischen Staatsführung uminterpretiert (MANNSCHAFT berichtete).
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