Raven für den Wandel – Queerfreundlich feiern in Kiew
Das Kyrylivska gibt es seit gut einem Jahr
Kiews Technoszene – für viele ein Raum der Freiheit, aber längst nicht für alle. Ein neues Clubprojekt möchte das ändern. Ein Segen für Vlad Shast, der endlich einen Ort gefunden hat, an dem er sich als schwuler Mann frei entfalten kann. Über die Bedeutung von sicheren Räumen in einer konservativ geprägten Gesellschaft.
Kyrylivska nennen sie den neuen Ort – nach der Strasse, in der er sich befindet. Einen offiziellen Namen hat das neue Clubprojekt in einer ehemaligen Bierbrauerei nicht. Stattdessen lässt der Club in Kiew ein mathematisches Symbol für sich sprechen. Ein durchgestrichenes E, in der Mathematik steht es für etwas, das nicht existiert. Doch das Kyrylivska gibt es seit gut einem Jahr, und prägt schon jetzt die Szene und ihre Protagonist*innen.
Die Strasse Kyrylivska liegt am Rande des Stadtteils Podil, unweit der Metrostation Kontraktova Ploshcha. Während im etwas südlicher und höher gelegenen Stadtzentrum rund um den Unabhängigkeitsplatz Majdan und den Chreschtschatyk die Hektik der Grossstadt zu spüren ist, geht es im Viertel am Dnepr etwas anders zu. Statt sozialistischen Prunkbauten dominieren hier bröckelnde Altbaufassaden das Strassenbild. Eine alte Strassenbahn schiebt sich langsam über rostige Schienen, die die beiden Hauptstrassen Verkhniy Val und Nyzhniy Val voneinander trennen. Während die museumsreife Bahn wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten wirkt, lassen umliegende Bars kaum mehr die sowjetische Vergangenheit erahnen. Mit minimalistisch-modernem Design erinnern sie eher an Szenebezirke westlicher Metropolen.
Corona wird auch hier ernst genommen – Maskentragen und Handdesinfektion gehören längst zur Routine. Wegen der Pandemie stand auch in Kiew das Nachtleben lange Zeit still, unter bestimmten Hygieneauflagen durften die Clubs nun aber wieder öffnen. Und so hat man auch im ∌ die Arbeit wieder aufgenommen, Partys und Konzerte finden wieder statt.
Inklusion nur im Interesse des Profits «Kyrylivska ist der erste Ort wirklicher Freiheit in Kiew», sagt Vlad Shast, der seit acht Jahren in der ukrainischen Hauptstadt lebt und die Entwicklung der Technoszene seitdem miterlebt hat. «Die klare Positionierung als queerfreundlicher und antifaschistischer Club spiegelt sich auch in der strikten Türpolitik wider.» Shast ist Mitte 20, seine Freundin Masha Volkova und er haben sich in der Szene zuletzt als Drag-Couple einen Namen gemacht. Im Frühjahr 2020 sind sie zum ersten Mal im Kyrylivska aufgetreten – bei der sexpositiven Berliner Partyreihe Pornceptual, der letzten Veranstaltung vor der coronabedingten Schliessung des Clubs. Einen Safe Space wie im Kyrylivksa habe es bisher nicht gegeben, erklärt Shast.
«Aus kommerziellen Gründen haben Partys und Clubs hier immer alle reingelassen, eine wirkliche Selektion gab es nie. Es waren und sind keine Orte der freien Entfaltung, sondern Orte, wo homophobe Rechtsradikale von dir Fotos machen und dich beschimpfen können.» Rechtfertigen würden Clubbesitzer*innen und Partyveranstalter*innen die Präsenz rechter Gruppen mit dem vermeintlich demokratischen Ansatz des «free space» und der Vision, die verschiedenen Lager miteinander in den Dialog zu bringen.
Mit der Berufung auf die Inklusion aller Gruppen rede man sich nur seine finanziellen Interessen schön, die in der Ukraine stets über allem stünden, meint Sashko Kucherenko, der nicht mit seinem echten Namen genannt werden möchte. Kucherenko ist Teil eines Kollektivs, das sich seit vielen Jahren gegen Faschismus in der Ukraine einsetzt. Durch seine Erfahrungen in der Antifaszene kennt er sich gut mit den rechten Gruppen in seinem Heimatland aus. «Neonazi zu sein, ist hier so etwas wie eine andere Meinung haben, die man vielleicht nicht besonders toll finden muss, aber die schon irgendwo okay ist», erklärt er. «Rechte werden nicht per se ausgeschlossen, nur weil sie rechts sind».
Rechtsextreme Ansichten sind in der Ukraine salonfähig Die Akzeptanz von rechtem Gedankengut in der Ukraine ist weit verbreitet. Das bestätigt auch Sergiy Movchan, der als Journalist für das Onlinemagazin Political Critique Ukraine arbeitet und kürzlich einen detaillierten Bericht über Rechtsextremismus in der Ukraine mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Kiew veröffentlicht hat. Dass die Revolution 2013/2014, bei der sich vor allem auch viele junge Leute gegen das korrupte Regime von Viktor Yanukovych positionierten, auch Werk rechtsextremer Gruppen war, sei offiziell bekannt. Viele dieser Gruppen unterstützten nun im Donbas die ukrainische Armee im Kampf gegen prorussische Separatist*innen. Dabei unterstehen diese rechtsextremen Gruppen offiziell dem Innenministerium und werden von der Regierung finanziert.
Vor diesem Hintergrund rechtfertigt Russland seine Rolle im Konflikt im Osten der Ukraine mit antifaschistischer Propaganda. Das mache eine offene Auseinandersetzung mit dem Thema Faschismus so schwierig, meint Movchan. «Wer hier jemanden als Faschist*in bezeichnet, wird schnell als prorussisch diffamiert und als Feind*in der Ukraine wahrgenommen.» Auf der Suche nach Identität spiele vor allem die Abgrenzung von Russland in der Ukraine eine wichtige Rolle. Durch den gemeinsamen russischen Feind teilten verschiedene Lager Antworten auf bestimmte Fragen. Wer aus einer vielleicht westeuropäischen Perspektive versuche, das Konzept von Rechtextremismus in der Ukraine zu verstehen, werde laut Movchan der Komplexität und Vielschichtigkeit dieses Konstrukts nicht gerecht. «Es gibt keine klare Trennung, Kontakt mit Rechten ist in der gemeinen Gesellschaft nicht verpönt.»
Dass rechte Gruppen, die öffentlich gegen Minderheiten hetzten, in der Ukraine sogar Eingang in eine Welt fänden, die eigentlich einen Ort der freien Entfaltung und des Respekts füreinander propagiere, macht Vlad Shast wütend. «Auf vielen Partys werden wir immer noch beleidigt. Auch Fotos machen sie von uns». Solche Fotos tauchen dann immer wieder mit Aufrufen zu Gewalt in sozialen Netzwerken auf. Kürzlich posteten Rechtsextreme Fotos von Shast samt seiner Wohnadresse in einer Telegram-Gruppe mit mehreren hundert Teilnehmer*innen und forderten dazu auf, Shast zusammenzuschlagen. Shast ging damit zur Polizei, unternommen wurde aber nichts – Hassverbrechen werden in der Ukraine kaum strafrechtlich verfolgt.
Hier zu bleiben und zu versuchen, die Menschen zu ändern, ist masochistisch.
Keine Rechtfertigungen, keine Angst Sofiia Lapina kennt dieses Problem gut. Die 30-jährige LGBTIQ-Aktivistin arbeitet für Kiyv Pride. Nach der jährlichen Parade, die über die Zeit des Umzugs von einem extremen Polizeiaufgebot geschützt wird, machten Rechtsradikale regelmässig Jagd auf die Teilnehmenden. Untersuchungen zu solchen Vorkommnissen gibt es kaum. Dies berichten auch queere Soldat*innen gegenüber MANNSCHAFT.
Lapina hat sich eigentlich nie wirklich für Ravekultur und Technoclubs interessiert. Den neuen Club in der Kyrylivska besucht sie trotzdem gerne, einfach um an einem Ort zu sein, wo man sich für die eigene Queerness vor niemandem rechtfertigen muss. Lapina steht für rebellische Aktionen, mit denen sie das Bewusstsein für die LGBTIQ-Community in der Ukraine schärfen will. Im Juni 2020 sorgte sie mit anderen Aktivist*innen für eine Überraschung (MANNSCHAFT berichtete), die es bis ins russische Fernsehen schaffte: Die Gruppe um Lapina flog mit einer Drohne eine Regenbogenfahne vor das Schwert der riesigen Mutter-Heimat-Statue – Denkmal des Sieges der sowjetischen Streitkräfte im Grossen Vaterländischen Krieg und eine der grössten Sehenswürdigkeiten der Stadt – sodass es aus frontaler Perspektive so aussah, als halte die Kolossalstatue die queere Flagge in die Höhe.
Nun möchte die Aktivistin verstärkt mit der Raveszene und speziell dem Kyrylivska zusammenarbeiten. Entgegen der Einschätzung vieler ist die Community, die sich für die Verteidigung der LGBTIQ-Menschenrechte in Kiew einsetzt, keineswegs eng verbunden mit der Clubszene. «Viele aus unseren Reihen sind über 40 und eher konservativ, wenn es um Technopartys und moderne Ideen für Aktivismus geht», sagt Lapina. In der wachsenden Raveszene sieht sie aber einen guten Partner für ihre Aktionen. «Je mehr gesellschaftlichen Rückhalt wir geniessen, desto besser können wir auf der politischen Ebene wirklich etwas einfordern.»
Uns bewundern immer mehr Leute dafür, dass wir das ausleben, was wir sein wollen.
Konsequentes Fotoverbot Kyrylivksa komme zur richtigen Zeit, findet Shast. Es habe seine Zeit gebraucht, um die Leute an die Ravekultur zu gewöhnen und die Community zu vergrössern. Verschiedene Clubs und Partyreihen, die schon vor dem Kyrylivska existierten, seien essenziell für die Entwicklung der Szene gewesen und auch heute noch fester Bestandteil. Es handle sich bei diesen Orten aber um keine Safe Spaces. Das Bewusstsein für die Notwendigkeit sicherer Orte der freien Entfaltung sei erst mit dem Kyrylivska aufgekommen, sagt er. Und am Zulauf aus der Szene zeige sich, dass die Leute reif seien für den nächsten Schritt.
Andere Veranstalter*innen, die bisher davor zurückgeschreckt seien, sich öffentlich queerfreundlich zu positionieren, fühlten sich seit der Eröffnung des Kyrylivska und dessen klarer Meinung dazu bestärkt, mitzumachen. Auch das konsequente Fotoverbot findet mittlerweile Nachahmer. «Vor der Eröffnung des Kyryliska waren Masha und ich nur Clowns. Jetzt bewundern uns immer mehr Leute dafür, dass wir das ausleben, was wir sein wollen.» Der Club habe schon jetzt einen wichtigen Einfluss auf die Szene, und der werde immer mehr wachsen, ist sich Shast sicher.
Auch wenn die Aussichten auf eine progressive Entwicklung zugunsten ausgegrenzter Gruppen nicht schlecht stehen – Vlad Shast und Masha Volkova wollen weg aus Kiew. «Hier zu bleiben und zu versuchen, die Menschen zu ändern, ist masochistisch.» Am liebsten wollten sie nach Berlin, wo das, wofür man hier kämpfe, längst normal geworden sei. Sofiia Lapina dagegen kann sich keinen anderen Ort als Kiew zum Leben vorstellen. Orte, an denen alles in Ordnung ist, findet sie langweilig. Sie will hier in der Ukraine dafür kämpfen, dass sich die Dinge verändern. Ihr Traum ist, aus ganz Podil einen Safe Space zu machen, sodass irgendwann niemand mehr in einen Club gehen muss, um sich frei zu fühlen.
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