Pride als Bootcamp: Den Widerstand üben

Es geht um Toleranz und Gleichberechtigung

Österreich: Candy Licious liest und wird von der FPÖ angefeindet (Foto: Vicky Posch)
Österreich: Candy Licious liest und wird von der FPÖ angefeindet (Foto: Vicky Posch)

In Wien wurden friedliche Dragqueen-Lesung und erbitterte Demonstrationen zu einem symbolträchtigen Schauplatz des gesellschaftlichen Konflikts. Unser Autor stellt in seinem Kommentar* die Frage, warum Paraden und Prides immer noch von grosser Bedeutung sind.

Sonntagvormittag in Wien. Die Dragqueen Freya van Kant liest 40 Menschen eine Märchengeschichte vor. Es geht um Solidarität, Toleranz und darum «man selbst zu sein». Gekommen sind vor allem Kinder und deren Eltern. Immer wieder finden solche Lesungen statt, aber diesmal ist es anders: Vor der Türkis-Rosa-Lila-Villa, einem zentralen Ort in der österreichischen Emanzipationsgeschichte Homosexueller der letzten Jahrzehnte, demonstrieren hunderte Menschen.



Die einen gegen die Lesung, die anderen gegen die Demonstrierenden. Auf der einen Seite sieht man Österreichfahnen und Plakate mit «Schützt unsere Kinder!», auf der anderen Seite Regenbogenfahnen und Tafeln wie «Alle Nazis haben kleine Spatzis». Die Polizei trennt beide Gruppen mit Sperrketten, im Umfeld warten hunderte Beamte auf einen möglichen Einsatz.

Wie kam es dazu? Im Vorfeld der Lesung war von rechten Gruppen zu Protesten aufgerufen worden. Gewarnt wurde vor «Perversionen», «Frühsexualisierung», «Geschlechterverwirrung» (MANNSCHAFT berichtete). Der Wiener FPÖ-Chef hatte die Absage der Lesung gefordert. Letztlich standen den rund 100 Demonstrant*innen um die 400 bis 500 Gegendemonstrant*innen aus dem Umfeld der LGBTIQ-Community gegenüber. Die Organisator*innen der Lesung zeigten sich danach «überwältigt von der Unterstützung».

Man hatte den Eindruck, dass man in der Gegenwart einen Blick in die Vergangenheit geworfen hat

Es waren Szenen, die eine Antwort auf die Frage geben, warum denn «heutzutage» Paraden und Prides «überhaupt noch notwendig» sind. Es sei «ja schon alles erreicht». Ein Satz, dessen Richtigkeit man an diesem Sonntag sehr gut einer Realitätsprüfung unterziehen und sehen konnte, wie sehr «alles schon erreicht» ist. Man hatte den Eindruck, dass man in der Gegenwart einen Blick in die Vergangenheit geworfen hat, die schneller als man glaubt wieder zur Zukunft werden könnte.

Sind Prides in den meisten europäischen Ländern in den letzten Jahren immer mehr zu einer Party und einer Art «symbolischen» Demonstration geworden, steht man bei einer Drag-Lesung plötzlich realen Demonstrierenden gegenüber. Man spürt deren destruktive Kraft, deren Energie und ahnt, was daraus entwachsen kann.

Plötzlich findet man sich in einer Situation wieder, in der man nicht mehr aus Freude auf die Strasse geht, um gemeinsam einen Tag lang zu feiern. Plötzlich geht es wieder um realen Widerstand und das Verhindern von Schlimmerem. Es geht wieder um Angst haben und ein Risiko eingehen.



Die Gründe, warum Paraden so wichtig sind, werden in solchen Momenten plötzlich wieder sichtbar und spürbar. Aus dem Demonstrieren für Werte wie Toleranz und Gleichberechtigung am CSD wird Widerstand gegen rechte Gruppen, die bei Drag-Lesungen Stimmung gegen LGBTIQ machen. Aufrufe gegen Homosexualität sind wohl nicht mehr salonfähig – also wird der Diskurs verschoben: Jetzt kommen lesende Dragqueens dran. Es ist fast komisch: Am CSD geht man für mehr Rechte auf die Strasse – bei Drag-Lesungen für weniger Rechte.

Prides sind moderne Bootcamps für Situationen, in denen Widerstand notwendig und real wird

Dennoch gibt es einen Aspekt, der neu und positiv und nicht «wie damals» ist: Es ist jenes Selbstbewusstsein, das man sich durch Paraden und Prides in den letzten Jahrzenten erkämpft und erarbeitet hat. Dieses Selbstbewusstsein, das jetzt nötig ist, um sich gegen Demonstrierende zu stellen. Prides ändern nämlich die eigene Ausstrahlung und kräftigen die innere Haltung, die auch die anderen spüren. Man könnte sagen: Prides sind moderne Bootcamps für Situationen, in denen Widerstand notwendig und real wird.

Peter Fässlacher

Peter Fässlacher

Er ist Moderator und Sendungsverantwortlicher bei ORF III und Stimme des Podcasts «Reden ist Gold» über die Liebe und das Leben mit Menschen der LGBTIQ-Community. Er lebt in Wien.

[email protected] Illustration: Sascha Düvel



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*Die Meinung der Autor*innen von Kolumnen, Kommentaren oder Gastbeiträgen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.

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