«Die Oper bietet, was schwule Männer anspricht»

Die Opernwelt gab und gibt schwulen Männern die Möglichkeit, unterdrückte Gefühle zu zeigen, meint unser Kommentator

Sydney Opera House
(Foto: Photoholgic/Unsplash)
Sydney Opera House (Foto: Photoholgic/Unsplash)

Peter Fässlacher ist Moderator und Sendungsverantwortlicher bei ORF III und Stimme des Podcasts «Reden ist Gold» über die Liebe und das Leben mit Menschen der LGBTIQ-Community. In seinem Kommentar* zieht er Parallelen zwischen der grossen Oper und der Gefühlswelt des schwulen Mannes. Der Text stammt aus der Herbst-Ausgabe der MANNSCHAFT.

«Auf einer Opernbühne müssen grosse Dinge geschehen!» Ein Satz von Chansonsängerin Georgette Dee. Ist das der Grund, warum viele schwule Männer so leidenschaftliche Opernfans sind? Wegen der grossen Emotionen? Oder ist das nur ein Klischee? Vielleicht sollte man die Frage anders formulieren: «Was hat die Oper zu bieten, das schwule Männer ansprechen könnte?» (Seit 2019 gibt es sogar den ersten explizit «schwulen» Opernführer der Welt – MANNSCHAFT berichtete).

1. Die Oper sagt: Emotionen sind dazu da, um sie zu zeigen. Und nicht, um sie zu verstecken. Die Diven auf der Bühne offenbaren ihre innersten Gefühle und werden am Ende mit langem Applaus und Standing-Ovations gefeiert. Das ist das erste Motiv: Die Sehnsucht, sich selbst und die eigenen Gefühle angstfrei zeigen zu können – und dafür von den anderen angenommen und geliebt zu werden.

Für schwule Männer war das lange Zeit keine Selbstverständlichkeit: Emotionen und romantische Gefühle zu zeigen, konnte etwas sehr Gefährliches sein. Es konnte bedeuten, von der Gesellschaft zurückgewiesen oder verstossen zu werden. Verfolgt zu werden. Körperlicher und seelischer Gewalt ausgesetzt zu sein. Zum Teil auch heute noch. In der Oper aber war und ist es möglich, Emotionen zu zeigen. Die Operndiven auf der Bühne leben die Emotionen stellvertretend für mich. Und ich sehe ihnen dabei zu und lebe mit. In der Oper kann ich den Gefühlen probesitzen.

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2. Oper macht Emotionen nicht nur sichtbar. Sie macht sie auch spürbar. Die Frequenz der hohen Töne erzeugt eine starke, spürbare Resonanz im eigenen Körper. Für ein paar Takte schwingt man immer wieder in der Emotion des Gesangs mit. Man adoptiert die Gefühle und bekommt eine Idee davon, wie es sich anfühlen könnte, wenn man diese Emotionen selbst zum Ausdruck bringen würde. Gleichzeitig bleibt man dabei unbeobachtet im dunklen Saal. Man blickt auf die sichtbaren Gefühle auf der Bühne, spürt sie sogar körperlich, identifiziert sich mit ihnen und bleibt dabei selbst unsichtbar. Das ist das zweite Motiv: Oper ist die Faszination der ungefährlichen Gefühle. Es sind Emotionen mit Sicherheitsabstand und Rückgabegarantie. Und ohne drohende Sanktionen.

3. Von den echten Stars werden diese hohen – und höchsten – Töne mit einer Leichtigkeit gesungen, die atemberaubend ist. Das ist das dritte Motiv: In der Oper macht man die Erfahrung, dass Gefühle zu zeigen etwas Einfaches ist. Etwas, das leichtfällt und noch dazu schön klingt. Es braucht keine Anstrengung, es müssen keine Ängste überwunden werden. Es passiert einfach so. Ganz selbstverständlich. Man kann sich so zeigen, wie man eben ist – für viele schwule Männer eine grosse Sehnsucht.

4. Opernstoffe sind voller Tragik und Schmerz. Sie erzählen oft Geschichten von unglücklicher Liebe und enden immer wieder mit dem Tod. Das ist das vierte Motiv: Musiktheater macht aus etwas Schrecklichem etwas Schönes. Schmerzhafte Gefühle klingen in der Oper wunderschön. Inneres Leid verwandelt sich am Weg in die Aussenwelt in etwas Zärtliches.

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5. Am Ende wird nirgendwo so lange applaudiert wie in der Oper. Einerseits natürlich wegen der künstlerischen Leistung der Opernstars und des Orchesters. Aber nicht nur. Der Applaus gilt auch dem Mut, sich auf der Bühne so ehrlich und verletzlich zu zeigen. Man bejubelt das, was man selbst gerne können würde: Seine Emotionen zu offenbaren, sich dabei beobachten zu lassen und dem Blick der anderen standzuhalten. Für ein paar Stunden zeigt einem die Oper, dass es möglich ist. Das ist das fünfte Motiv: Oper ermutigt. Sie sagt: Du darfst. Wenn ich es schaffe, dann kannst du es auch schaffen. Das Publikum applaudiert und ruft: Zugabe!

*Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar oder eine Glosse zu einem aktuellen Thema, das die LGBTIQ-Community bewegt. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.

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