«Mit Evan Hansen können sich viele queere Menschen identifizieren»

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Highschoolstudent Evan (Ben Platt) leidet an einer Angststörung und schreibt im Rahmen einer Therapie Briefe an sich selbst. (Bild: Erika Doss, Universal Pictures)
Highschoolstudent Evan (Ben Platt) leidet an einer Angststörung und schreibt im Rahmen einer Therapie Briefe an sich selbst. (Bild: Erika Doss, Universal Pictures)

Nach dem Musical übernimmt Ben Platt auch in der Verfilmung von «Dear Evan Hansen» die Hauptrolle. Dafür musste sich der 27-jährige Schauspieler wieder in seine Jugend zurückversetzen.

Ben, in «Dear Evan Hansen» wird eigentlich keine queere Geschichte erzählt, trotzdem scheint das Musical gerade Fans aus der LGBTIQ-Community besonders anzusprechen. Warum? Dafür gibt es ein paar unterschiedliche Gründe, denke ich. Zu einem gewissen Grad hat das vielleicht mit meiner Person zu tun. Ich war ja am Broadway von Anfang an quasi das Gesicht der Produktion und bin in der Theaterwelt eigentlich immer sehr offen mit meiner Queerness und meinen Beziehungen umgegangen. Vielleicht wussten es also gerade viele jüngere Zuschauer*innen zu schätzen, dass ich da jemanden gespielt habe, der in vieler Hinsicht ganz anderes ist als ich, während ich trotzdem mir selbst dabei sehr treu geblieben bin. Dass das möglich ist, sehen wir dieser Tage ja immer häufiger, was mich wirklich enorm freut.

Es gibt doch sicherlich auch inhaltliche Elemente, oder? Ja, selbstverständlich. Evan Hansen ist eine Figur, die in vielen anderen Geschichten bestenfalls eine kleine Nebenrolle wäre. Ein Aussenseiter, der das Gefühl hat, nicht dazuzugehören. Bei uns steht er im Zentrum. Anders sein, übersehen werden, sich selbst nicht wirklich kennen oder akzeptieren – das sind natürlich alles Erfahrungen, mit denen sich viele queere Menschen identifizieren können. Die grösste Herausforderung, vor der Evan steht, ist, seinen Selbsthass zu überwinden und endlich zu lieben, was er im Spiegel sieht. So, wie unsere Gesellschaft leider bis heute in vielen Teilen funktioniert, ist das etwas, womit auch viele von uns zu kämpfen haben. Deswegen verstehe ich sehr gut, wenn queere Menschen einen besonderen Bezug zu Evans Ringen mit seinen Dämonen, seiner Entwicklung und schliesslich seiner Erlösung am Ende spüren, wenn man es so nennen möchte.

Du selbst hast dich eigentlich 2017 von der Musicalrolle des Evan Hansen verabschiedet. Hast du gezögert, ihn für den Film noch einmal zu verkörpern, oder hast du eh immer gewusst, dass das eines Tages kommen wird? Mit Sicherheit gewusst habe ich es nicht, das Stück läuft immer noch am Broadway und anderswo. Deswegen war stets die Frage, ob es vielleicht für eine Verfilmung zu früh ist. Und natürlich stand zur Debatte, ob ich ab einem gewissen Punkt womöglich zu alt bin, diese Rolle noch einmal zu spielen. Als es dann doch irgendwann konkret wurde, habe ich zwar nicht gezögert, hatte jedoch ein paar Vorbehalte und wurde nervös. Ich bin auf der Theaterbühne zuhause, und dort war «Dear Evan Hansen» die vielleicht schönste und prägendste Erfahrung meines Lebens. Daher gab es schon den Gedanken, ob ich diese perfekte Erinnerung nicht besser unangetastet lassen sollte. Doch die Gelegenheit, diese Geschichte einem ganz neuen und anderen Publikum zugänglich zu machen, war eben auch unwiderstehlich.

Während der Dreharbeiten hast du deinen 27. Geburtstag gefeiert. Man könnte in der Tat argumentieren, dass das ein bisschen zu alt ist, um einen Teenager an der Highschool zu spielen . . . Das war schon auch eine echte Herausforderung. Dass ich Gewicht verlieren, mich rasieren und meine Haare wachsen lassen musste, war dabei das geringste Problem. Aber auf einer emotionalen, persönlichen Stufe fiel es mir nicht unbedingt leicht, meine eigene Entwicklung der letzten Jahre quasi rückgängig zu machen. Plötzlich wieder jemand sein zu müssen, der sein Potenzial noch nicht ausschöpft, sich selbst nicht wirklich versteht und mit der Selbstakzeptanz ringt, hat mich durchaus verunsichert. Mit einem Mal fühlte ich mich wieder ungewohnt verletzlich.

Halfen in diesem Fall die Erinnerungen an deine eigenen Erfahrungen als Teenager? Ja und nein. Ich bin zum Glück ganz anders aufgewachsen als Evan. An meiner Schule zum Beispiel war es völlig okay, ein bisschen seltsam zu sein und andere Interessen zu haben. Ich konnte meine künstlerischen Ambitionen ausleben und war von vielen anderen Theaternerds umgeben, weswegen ich mich auf eine Art und Weise gesehen und akzeptiert fühlte, wie Evan das nicht kennt. Trotzdem kenne ich es natürlich, mir selbst im Weg zu stehen, mir zu viele Sorgen zu machen und immer wieder von Selbstzweifeln geplagt zu werden. Dass ich ein ziemlich verkopfter Mensch bin, ist ja vermutlich nicht zu übersehen.

Mit der Schauspielerei begannst du bereits als Neunjähriger. Gab es Phasen, in denen du keine Lust auf diese Laufbahn hattest? Im Grunde wusste ich immer, dass mich nichts so sehr erfüllt wie die Schauspielerei. Deswegen hatte ich nur dieses eine Ziel und war auf nichts anderes fokussiert. Ich habe ja eben schon erwähnt, dass ich jemand bin, der etwas zu sehr dazu neigt, sich in die eigenen Gedanken und Ängste hineinzusteigern – und das Einzige, was mich davon erfolgreich abhält, ist das Spielen, Singen und Performen. Ein bisschen ist das für mich wie eine Sucht. Erst jetzt, wo ich ein wenig älter und ruhiger bin, merke ich, dass es natürlich auch die Gefahr gibt, irgendwann ausgebrannt und müde zu sein. Immer wieder dem Blick und auch der Kritik der anderen ausgesetzt zu sein, geht einfach nicht spurlos an einem vorbei. Nicht dass wir uns falsch verstehen, ich bin immer noch extrem glücklich mit dem, was ich tue. Aber ich kann mir schon vorstellen, künftig auch andere Aufgaben im gleichen Bereich zu übernehmen. Schreiben, produzieren oder Regie führen zum Beispiel.

Bei der Netflix-Serie «The Politician»(MANNSCHAFT berichtete) bist du immerhin bereits Exekutivproduzent. Wie viel kreativen Einfluss hattest du? Die Serie hat mit Ryan Murphy, Brad Falchuk und Ian Brennan natürlich drei Schöpfer und Produzenten, die wirklich brillant sind und eigentlich nicht noch jemanden brauchen, der ihnen da reinredet. Von daher bin ich da ganz gezielt nur auf bestimmten Ebenen involviert, allen voran bei der Besetzung des Ensembles. Ich bin mehr oder weniger die Schnittstelle zu anderen Schauspieler*innen meiner Generation, schlage Leute vor, die ich toll finde, und mache Ryan und die anderen auf neue Gesichter aufmerksam. Und auch beim Dreh bin ich dann Ansprechpartner für beide Seiten und habe immer im Auge, dass sich alle gesehen und gehört fühlen. Aber ich kann nicht leugnen, dass es mich für die Zukunft auch reizt, beide Aufgaben voneinander zu trennen. Bei «Dear Evan Hansen» war ich sehr froh, nur Schauspieler zu sein. Und genauso würde ich gerne auch Projekte produzieren, bei denen ich wirklich nur hinter der Kamera verantwortlich bin und nicht davor stehe.

«An meiner Schule war es völlig okay, ein bisschen seltsam zu sein.»

Apropros Produktion: Einer der Produzenten von «Dear Evan Hansen» ist dein Vater. Wie war die Zusammenarbeit mit ihm? Das war schon eine sehr besondere Erfahrung. Normalerweise haben wir bislang immer versucht, unsere beruflichen Wege voneinander fernzuhalten. Mein Vater war in der Hinsicht immer sehr smart und wusste, dass es für mich wichtig ist, genug Raum zu haben, mich als Künstler zu entwickeln und mir meine eigenen Lorbeeren zu verdienen. Aber in diesem Fall war für uns beide vollkommen klar, dass wir beide an diesem Projekt beteiligt sein müssen. Mein Vater ist einfach der perfekte Produzent für diesen Film, einfach weil er so viel von Musicals versteht, gerade auch was Adaptionen für die Leinwand angeht. Da fühlte ich mich in besten Händen. Und wir sind uns ziemlich ähnlich, was unser kreatives Gespür und unseren Geschmack angeht, deswegen haben wir richtig gut harmonisiert.

dear evan hansen
dear evan hansen

Gerade ist dein neues Album «Reverie» erschienen. Du hast gesagt, es klingt nach Barbra Streisand meets Years & Years. Das sind zumindest zwei der Einflüsse, die man sicherlich aus den neuen Songs heraushört. Bei meinem ersten Album hatte ich noch das Gefühl, dass ich Musik machen muss, die mit der Broadway- und Theaterwelt verknüpft ist, in der ich bekannt wurde. Auch von der Plattenfirma gab es da durchaus die Erwartung, dass ich niemanden vor den Kopf stosse. Doch inzwischen habe ich mich weiterentwickelt und fühle mich freier, deswegen wollte ich Songs aufnehmen, die nach dem klingen, was ich selbst privat höre, oder dem Pop, mit dem ich aufgewachsen bin. Weniger Theatralik und hochemotionale Balladen, dafür ein bisschen mehr Tempo, Lebensfreude und Pop. Aber man hört auch andere Einflüsse, von Phil Collins und Peter Gabriel bis Caroline Polachek.

Eine letzte Frage noch mit Blick auf deinen nächsten Film «People We Hate at the Wedding». Darin spielst du dann erstmals eine entschlossen schwule Figur, richtig? Na ja, ich habe auch in einer Folge von «Will & Grace» schon einen schwulen Mann gespielt. Aber klar, das jetzt ist nochmal ein ganz anderes Kaliber und ich freue mich enorm darauf. Die längste Zeit meiner Karriere war die Devise immer, dass meine eigene Queerness nicht dafür verantwortlich sei soll, dass ich in einer Schublade feststecke. Ich wurde immer ermutigt, queere Rollen eher zu meiden und lieber Heteros zu spielen, um mich nicht festlegen oder kommerziell einschränken zu lassen.

Dass sich in letzter Zeit nun das Narrativ in unserer Branche komplett ändert, wie Schauspieler*innen mit ihrer Queerness umgehen und welche Chancen sich ihnen bieten, ist wunderbar mitanzusehen. Und so sehr ich mich freue, dass ich so viele interessante Figuren wie Evan Hansen spielen durfte, die jeweils auf ihre Weise gewisse Männlichkeitsbilder unterlaufen, so begeistert bin ich nun auch, endlich jemanden zu spielen, der viel mehr mir selbst entspricht. Ich hoffe sehr, dass diese nächste Rolle die erste von vielen queeren Figuren ist, die ich spielen werde. Aber auch, dass wir irgendwann an einem Punkt sind, wo es nicht mehr nötig ist, dass jemand nachzählt, wie viele meiner Rollen schwul und wie viele hetero waren, weil es ganz selbstverständlich ist, dass ich alles spiele, was mich interessiert.

Ben Platt

Wenn der eigene Vater nicht nur erfolgreiche Filme wie «Legally Blonde», «Into the Woods» oder «La La Land» produziert, sondern auch für Broadway-Megahits wie «Wicked» verantwortlich ist, führt vermutlich kein Weg daran vorbei, dass mindestens eines der Kinder ebenfalls im Showgeschäft landet. Kein Wunder also, dass Ben Platt, geboren 1993 in Los Angeles, bereits im Alter von neun Jahren neben Kristin Chenoweth auf der Bühne des Hollywood Bowl stand. Nach diversen anderen Theaterengagements und seinem Highschoolabschluss zog er fürs Studium schliesslich nach New York.

Die Columbia University verliess er allerdings bereits nach wenigen Wochen wieder, weil er eine tragende Rolle im Musical «The Book of Mormon» bekam. Anschliessend war Platt auch in Filmen wie «Pitch Perfect» oder «Ricki and the Flash» zu sehen, übernahm die Hauptrolle in Ryan Murphys Serie «The Politician» und veröffentlichte 2019 sein Debütalbum «Sing to Me Instead», das es in die Top 20 der US-Charts schaffte. Nun spielt Platt auch seine erste Kinohauptrolle. «Dear Evan Hansen» (ab 28.10. im Kino) ist die Verfilmung des gleichnamigen Broadwayerfolgs, der ihm bereits einen Tony, einen Grammy und einen Emmy eingebracht hat.

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