Marcel Mann: TikTok, das tägliche Update und ich

Eine neue Folge unserer Kolumne «Mannstruation»

Foto: Marcel Mann/Instagram
Foto: Marcel Mann/Instagram

Das mit den sozialen Medien ist nicht so leicht. Das hat auch unser Kolumnist Marcel Mann festgestellt. Aber dasselbe gilt auch für Gespräche mit seiner Mutter.

Ich bin jetzt bei TikTok. Der jüngsten aller Social-Media-Plattformen, neben dem Teletext des KiKas. Und ich spare nun richtig viel Zeit. Bis vor zwei Tagen habe ich sicherlich gute anderthalb Stunden täglich damit zugebracht, Kollegen, entfernten Verwandten und Stadtstreichern zu erklären warum ich mit meinen lustigen Videos (liegt im Zwerchfell des Betrachters) noch nicht längst bei der angesagtesten Kurzvideoplattform für unter 14-Jährige bin.

Nun sitze ich vor meinem Handy, betrachte Tanzvideos von Kindern, Rap-Videos von Kindern mit ersten Bartwuchs und viel viiiiiiel Material von Menschen die zu Soundschnipseln ihre Münder bewegen. Ich komme mir vor wie ein kinderloser Jemand, der zum ersten am Spielplatz sitzt. Manchmal wechselt es sich mit dem Gefühl ab, als hätte mir jemand mit einer Keule auf den Kopf gehauen, und nun sähe ich die Welt spiegelverkehrt. Meist wechseln diese Zustände jede ungerade Minute. Amerikaner würden diesen Zustand vermutlich mit anxiety also Ängstlichkeit beschreiben. Die Zeitersparnis vertreibe ich mir nun also mit Sorgen. Moment, ich muss kurz tief ein- und wieder ausatmen …

Instagram habe ich begriffen und betreibe es mit einem Eifer zur Hassliebe. Dem viralen Hit oder Anerkennung Fremder im Internet hinterherzuhecheln wie ein Esel einer vor ihn gespannten Möhre, das verbraucht viele Kalorien. Mehr als ich aufnehmen könnte, wenn ich mich mit geschmolzenem Schichtnougat einreiben würde. Was vermutlich ein viraler Hit werden könnte.

Ich lasse das aber trotzdem und lade einfach Videos zum Thema LGBTIQ oder Feminismus hoch.

Aber nun kommt TikTok in mein Leben und keine vier Stunden später erfahre ich, dass Journalisten des NDR, des WDR und der Tagesschau aufdeckten, dass die chinesische Plattform Wortfilter benutzt um Inhalte, die gewisse Worte oder Wortkombinationen enthalten, aus dem allgemeinen Feed zu entfernen. Worte wie:

homo homophob homosexuell LGBTQ LGBTIQ queer schwul

Na dann gut Nacht.

Die Vermutung, dass Schlagwörter blockiert werden, entstand im TikTok-Team der Tagesschau. Die Journalist*innen hatten beobachtet, dass offenbar einige ihrer Kommentare bei anderen Nutzer*innen nicht erschienen. Daraufhin wurde die grössere Analyse gestartet (MANNSCHAFT berichtete).

Getestet wurden auch Wörter und Namen, die in sozialen Medien in China zensiert werden. TikTok wird von einem chinesischen Unternehmen betrieben. In der Untersuchung ging etwa kein Kommentar mit dem Namen der chinesischen Tennisspielerin Peng Shuai öffentlich online. Die Sportlerin hatte den ehemaligen Funktionär Zhang Gaoli im November 2021 des sexuellen Missbrauchs beschuldigt.

Mache ich TikTok mit meiner Anwesenheit zu einem halben Tausendstel queerfreundlicher?

Kann ich Teil einer so kaputten Sache sein? Mache ich mich dann mitschuldig oder mache ich die Plattform mit meiner Anwesenheit zu einem halben Tausendstel queerfreundlicher? Ich weiss es nicht. Ich glaube, ich gehe in den Teletext des KiKas und suche mir einen Brieffreund.

Früher waren Radieschen schärfer Vorhin hab ich meiner Mitte-60-jährigen Mutter versucht, TikTok zu erklären. Am Ende des für alle Seiten minütlich verwirrender werdenden Gesprächs verstand ich selbst nicht mehr, wie ein Internet funktioniert und wo man es erntet. War aber auch nicht mehr so wichtig. Ich hab erfahren, dass Radieschen früher schärfer waren, aber die Leute alle Weicheier geworden sind und deswegen die Schärfe herausgezüchtet wurde. Ausserdem hat meine Mutter neulich meinen Vater im Gartencenter verloren, aber dann doch wieder gefunden, gerade als sie sich ein Leben als Single-Frau auf Reisen ausgemalt hatte. Und dass meine Cousine ein Mädchen bekommen hat, aber niemand den Namen aussprechen kann.

Ich wusste nicht, dass meine Cousine schwanger war, hätte mich aber über Postkarten meiner Mutter aus fremden Ländern gefreut. Zum Schluss des Gesprächs bat ich sie noch in meinem alten Kinderzimmer nach Briefen meiner früheren Bekanntschaften aus dem Teletext des KiKas zu suchen. Ich unterhielt nämlich wirklich Korrospondenz mit fremden gleichaltrigen (!) (sicherheitshalber, wegen Shitstorm) Kindern, die ich nie getroffen und dies auch nie vorgehabt habe. Meine Mutter sucht noch.

Ich muss jetzt wieder ein Video hochladen. Laut Youtube ist ein tägliches Video unerlässlich, ansonsten fällt man dem Algorithmus zum Opfer und wird weniger wert als Mensch, die Zeugen Jehovas grüssen einen nicht mehr oder nur noch widerwillig, was weiss ich. Machen wir uns nichts vor: Ein tägliches Update werde ich nie schaffen. Eine monatliche Kolumne bringt mich doch schon an den Rand meiner Kapazität!

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