Mächtig ohnmächtig: Neue Männlichkeit braucht das Land

Patriarchale Strukturen begünstigen imperiales Verhalten, das schlimmstenfalls in einem Krieg mündet – siehe Ukraine

Foto: Scorpio Creative/Unsplash
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Von Selbstherrlichkeit über Selbstüberschätzung bis hin zu Selbstzerstörung: Das Modell des starken, machistischen und allmächtigen Mannes hat ausgedient. Die Welt braucht positive Konzepte von Geschlechtern beziehungsweise Menschlichkeit, meint Predrag Jurisic in seinem Essay.

Männer haben sich für Fussball zu interessieren. Und für Autos. Und Frauen. Männer müssen wie Bud Spencer und Terence Hill sein, die ab und zu vier Fäuste für ein Halleluja raushauen. Oder wie Diego Maradona, der nicht nur göttlich mit dem Fuss Tore versenkt, sondern hie und da auch sein glückliches Händchen beweist. Oder wie James Bond, der die Lizenz zur Frauen- und Schwulenfeindlichkeit hat.

Das war das Männlichkeitsbild, das in meiner Kindheit und Jugend der 80er und 90er Jahre herumgeisterte: Ein echter Mann war erfolgreich, hart und über alles und alle erhaben. War er dabei auch noch charmant, so konnte er sich ziemlich alles erlauben – wie James Bond oder Diego Maradona eben. Dabei spielte es keine Rolle, ob es um sexuelle Belästigung, geschäftliche Betrügereien oder das Niederringen von Rival*innen ging. Hauptsache, er setzte sich durch. Denn auf die Dicke seiner Ellbogen kam es an.

Und wie ist die Lage heute? Dazu später mehr.

Verlorene Helden 1991 kam dann der Balkankrieg – zunächst kurz in Slowenien, dann umso heftiger in Kroatien und 1992 auch in Bosnien. Es waren Frühlingsferien, als ich mit meiner Familie auf dem Weg nach Bosnien war. Wir wollten unsere Verwandten besuchen. Doch wir mussten in Slawonien am kroatischen Ufer der Save umdrehen. Am Karfreitag. «Es ist zu gefährlich, geht wieder zurück in die Schweiz», zitterte uns mein Onkel, der Bruder meines Vaters, entgegen. Im Hintergrund strömten Menschen mit ihren Habseligkeiten von der Flussfähre, um von Bosnien nach Kroatien zu fliehen. Das bewaldete Ufer beherbergte ein Minenfeld und einen Wald voller Warnschilder. Überall standen junge Männer im Tarnanzug mit Kalaschnikows. Sie waren gerade volljährig, also nur sechs Jahre älter als ich damals. Sie rauchten ihre Zigaretten, als würden sie all das Leid, das an ihnen vorbeiströmte, wegsaugen wollen.

Predrag
Predrag

Vom Schock erstarrt verabschiedeten wir uns vom Onkel. Er ging mit der Flussfähre wieder zurück nach Bosnien – im Wissen, dass in den nächsten Tagen auch dort der Krieg ausbrechen würde. Zwei Monate später lag sein Sohn, mein Cousin, im Spitalkeller in der ostkroatischen Stadt Slavonski Brod. Ein Granatsplitter hatte sein linkes Auge durchbohrt, das ihm entfernt werden musste. Er wollte als Held die Unabhängigkeit der bosnischen Kroat*innen verteidigen und verlor dabei fast sein Leben. «Glück im Unglück», meinten die Ärzt*innen, «der Granatsplitter schrammte nur knapp am Gehirn vorbei.»

Den Balkankrieg verursacht hatten hauptsächlich Männer. Politiker, die sich nicht einig werden konnten. Die nie gelernt hatten, für ihre Bedürfnisse mit Worten statt mit Gewalt einzustehen. Die von eigenen Grossmachtfantasien getrieben waren und mit Propaganda die Balkanvölker gegeneinander aufwiegelten. Die junge Männerkörper wie denjenigen meines Cousins als Waffe missbrauchten. Die Familien auseinanderrissen. Die Kriegsverbrechen wie Massenvergewaltigungen und Massentötungen befehligten. Die aus Helden Verlierer machten und verbrannte Erde hinterliessen.

Backlash Ukraine 30 Jahre später traue ich meinen Augen kaum, als der Krieg in der Ukraine losbricht. Und wieder ist es ein Mann, der eine Grossmachtfantasie hegt. Der ebenfalls junge Männerkörper als Waffe missbraucht. Der Familien auseinanderreisst, Kriegsverbrechen zu- und verbrannte Erde hinterlässt. Und es ist weder das erste noch das letzte Mal, dass sowas in der Weltgeschichte passiert.

Männlichkeit
Männlichkeit

Neben geostrategischen und ökonomischen Gründen basiert ein solches Verhalten auch auf einem patriarchalen Männlichkeitsbild beziehungsweise auf dessen Strukturen. Diese fussen auf Dominanz und Diskriminierung von schwächeren, untergeordneten und anders lebenden, denkenden, fühlenden Individuen. Dies führt zu Unterdrückungsmechanismen: In Form von Ausgrenzung – wie zum Beispiel beim russischen Gesetz, das «Gay-Propaganda» verbietet (MANNSCHAFT berichtete). Oder in Form von körperlicher und psychischer Gewalt, die überall auf der Welt stattfindet – in der Schule, im Elternhaus, im Berufsleben oder in der Partnerschaft.

Dabei geht es immer darum, Stärke zu zeigen, indem man andere abwertet, erniedrigt und sie damit als schwach hinstellt. Oder in Form von ökonomischen Schäden wie der Finanz- und Immobilienkrise 2008. Oder in Form von sozialer und ökologischer Ausbeutung aufgrund von Macht- und Wachstumsbestreben, die immer wieder zu Abhängigkeiten und Unterdrückung führt.

Und die Frauen? Patriarchale Strukturen begünstigen imperiales Verhalten, das im schlimmsten Fall in einem Krieg mündet. Es ist jedoch nicht so, dass Männer allein Kriege führen. Zwar geschieht dies öfter, liegt aber auch daran, dass sie dank dem Patriarchat häufiger Machtpositionen besetzen. In der Geschichte gab es auch sehr mächtige Frauen, die Kriege führten oder imperiales Verhalten zeigten: Königin Isabella I. von Kastilien bei der Kolonialisierung von Mittel- und Südamerika sowie bei der Inquisition. Königin Elisabeth I. im englisch-spanischen Krieg. Margaret Thatcher im Falklandkrieg gegen Argentinien. Auch wenn in diesen Beispielen Frauen die Befehlsposition innehatten, beruhte ihre Herrschaft trotz allem auf patriarchalen Prinzipien – dem grenzenlosen Gieren nach Besitz, Dominanz und Einfluss.

predrag
predrag

Patriarchale Strukturen sind auch für Männer ungesund Während bei der Finanzkrise neben den faulen Papieren Selbstherrlichkeit und Selbstüberschätzung eine grosse Rolle spielten, sind patriarchale Strukturen auch für die Männer selbst eine Gefahr: Denn diese neigen in unserer Leistungs- und Verschleissgesellschaft auch zu mehr Selbstzerstörung als Frauen. Sie gehen mehr Risiken ein – beim Autofahren, Substanzkonsum oder in der Freizeit. Gleichzeitig achten sie weniger auf ihre Gesundheit: Weil sie es gewohnt sind, keine Schwäche zu zeigen, überschreiten sie öfters die Grenzen ihrer Ressourcen oder unterdrücken ihre eigenen Sorgen und Gefühle. Auch nehmen sie weniger häufig medizinische Hilfe in Anspruch. Zwei Folgen davon: eine höhere Suizidrate sowie kürzere Lebenserwartung als bei Frauen. Ganz zu schweigen von den Kollateralschäden, die die gesamte Gesellschaft betreffen: Druck am Arbeitsplatz, höhere Gesundheitskosten, Familiendramen . . . Am Ende sind die vermeintlich mächtigen Männer* ziemlich ohnmächtig, weil sie sich aus einer falsch verstandenen Stärke heraus selbst schwächen.

Auch im Westen ist es noch nicht zum Besten Wer meint, toxische Männlichkeit oder patriarchale Strukturen sind ein Problem von autoritären Systemen, irrt. Westlich geprägte Demokratien sind aus patriarchalen Strukturen hervorgegangen, die sie immer noch in sich tragen. Dies zeigt sich gleich auf mehreren Ebenen: Frauen und queere Personen verdienen für die gleiche Arbeit weniger als cis-hetero Männer. Frauen üben nach wie vor mehr unbezahlte Care-Arbeit aus – ob in der Kindererziehung oder in der Pflege von Familienangehörigen. Familie und Beruf unter einen Teilzeit-Hut zu bekommen, ist für alle Geschlechter schwierig. Führungsgremien sind mehrheitlich eine Männerdomäne, während Männer in sozialen Berufen rar sind. Bei Expert*innen-Interviews fragen Medien häufiger Männer an als Frauen oder queere Personen. Und, und, und. Es gibt also noch viel zu tun.

«Sehnsucht nach dem Henkelpott» Ein erster Schritt, um patriarchale Strukturen aufzubrechen, ist das Aufdröseln von klischierten Geschlechterrollen. In ein solches Rollenklischee ist neulich eine berühmte Telekomanbieterin der Schweiz getappt: Sie hat angenommen, mich könnte es wegen meines Geschlechts nach der Champions League gelüsten. Denn Männer lieben ja bekanntlich Fussball. Dabei verspüre ich so gar keine «Sehnsucht nach dem Henkelpott», wie mir dies die Überschrift des Newsletters schmackhaft machen möchte. Dies ist nur ein kleines der vielen Beispiele, die uns täglich begegnen, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Eltern kennen solche Klischees bei Anziehsachen oder Spielzeugen für ihre Kinder: Dort stecken Rosa und Blau die Geschlechtergrenzen ab und trichtern es den Kindern förmlich ein.

predrag
predrag

Daneben sind Schule, Erziehung und Zivilcourage gefordert – und zwar immer dann, wenn sexistische Äusserungen geschehen oder andere Diskriminierungen wegen des Geschlechts, der Geschlechtsidentität oder sexuellen Orientierung. Auf dem internationalen Politparkett braucht es vermehrt feministische Aussenpolitik, die Menschenrechte in den Vordergrund rückt, Empathie als Stärke vorlebt und präventive Diplomatie betreibt. Die Studie «A Global Study on the Implementation of United Nations Security Council Resolution 1325» zeigt: Je mehr Frauen an Friedensabkommen mitwirken, umso mehr finden die Bedürfnisse für die Wiederherstellung beziehungsweise Sicherung des Friedens aus der Bevölkerung Gehör. Dies wiederum reduziert die Wahrscheinlichkeit eines bewaffneten Konflikts.

Von der Männlichkeit zur Menschlichkeit Klar ist: Eine destruktive Form von Männlichkeit dient niemandem. Allerdings ist es am Ende nicht ausschliesslich eine Frage des Geschlechterkampfs: Es geht nicht darum, alles Männliche zu dämonisieren und gegen alles Weibliche auszuspielen oder umgekehrt. Wir als Gesellschaft müssen uns von einschränkenden Geschlechterkonzepten hin zu inklusiven Konzepten der Menschlichkeit bewegen. Wenn wir die Vielfalt aller Individuen als Stärke annehmen, eröffnen wir uns dadurch ein unendlich grosses Entfaltungsreservoir. Dieses erreichen wir, indem wir die Unterschiede als Kapital betrachten, anstatt die Menschen nach ihren Unterschieden zu beurteilen und zu diskriminieren. Denn nur Vielfalt bereichert. Nur Selbstbestimmung macht stark und unabhängig. Nur Kooperation führt zu Frieden. Betrachten wir unsere individuellen Unterschiede als kollektive Stärke, finden wir rascher zueinander, ohne jemanden zurückzulassen.

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