«Jedes Gesicht ein Unikat» – Zwei Zürcherinnen bebrillen die Welt
Zu den Fans gehört das nicht-binäre Model Tamy Glauser
Zwei Zürcherinnen, unaufgeregt und selbstbewusst. Ein kleines Brillenlabel namens «Sol Sol Ito», das sich zwischen Beverly Hills und Tokio ausbreitet. Zudem ein nicht-binäres Schweizer Model und eine Mission: Normen aufbrechen. Das ist die Geschichte von Sandra Kaufmann und Monika Fink.
Zürich, 15 Uhr, die Sonne scheint. Im Kreis 4 an der Pflanzschulstrasse liegt das Atelier von Sandra Kaufmann und Monika Fink: von aussen unscheinbar, die Glasfront spiegelt die gegenüberliegende Hausfassade wider und eine buschig-grüne Hecke. Nichts lässt erahnen, dass dort drinnen Brillen entstehen, die von São Paulo bis Hongkong getragen werden.
Im Innern sitzen drei Menschen in einem länglichen Raum, an dessen Wänden kleine bis grosse Materialschränke stehen und Bilder von Brillen hängen. Sie diskutieren geschäftig an einem grossen Tisch, den sie schon eine Weile in Beschlag genommen haben müssen, wie leere Espressotassen bezeugen, aufgetafelte Schokolade, Handys, Ladekabel und aufgeklappte Brillenschachteln. Es sind Sandra Kaufmann, Monika Fink – die beiden Gründerinnen des Brillenlabels «Sol Sol Ito» – und Tamy Glauser, ein nichtbinäres Schweizer Model, das die Laufstege der Welt kennt. Zusammen bringen sie dieses Jahr ihre zweite gemeinsam kreierte Sonnenbrille heraus. Die Drei wirken wie Magnete, angezogen von kreativer Energie, und mit einer Mission: Die Normen der Brillenindustrie abstossen.
In diesem Atelier hat vor zehn Jahren alles begonnen. Es ist die Geschichte von dem kleinen Brillenlabel «Sol Sol Ito», mit dem Sandra und Monika in die Welt hinauszogen. Sie stolperten schnell. Doch sie machten weiter und weiter und weiter – und sie haben noch Grosses vor, am liebsten einen Welterfolg. Und so beginnt ihre Geschichte.
Ein Schlag ins Gesicht «Wir wollten einfach eine Brille machen, die uns gefällt», sagt Sandra. Sie und Monika machen sich an die Arbeit, nachdem Sandra 2012 ihr erstes Brillenunternehmen «Strada del Sole» an Investoren verkauft hat. Sie entwickeln ein eigenes Konzept: ein Scharnier ohne Schrauben und steckbare Bügel, die nach Lust und Laune auswechselbar sind. «Jeder starke Brand braucht ein Alleinstellungsmerkmal und das ist unseres», sagt Sandra.
Und das Produkt gefällt: Noch bevor sie es auf den Markt bringen, gewinnen Sandra und Monika 2013 den Eidgenössischen Designpreis. «Das hat uns gepusht und uns Druck gemacht, die Brille rasch auf den Markt zu bringen», sagt Sandra. Doch was folgt, ist ein Schlag ins Gesicht: Die erste Kollektion fällt bei den Optiker*innen durch, weil die Bügel zu dick sind und somit nicht anpassbar auf die Gesichter der Kund*innen. «Das war ein Tiefpunkt», sagt Monika. Und Sandra fügt an: «Doch Aufgeben war keine Option. Jeder, der physische Produkte auf den Markt bringt, hat anfangs Produktionsprobleme.»
Sandra spricht aus Erfahrung: Sie kennt solche Rückschläge aus ihrer Zeit in der Uhrenindustrie. Sie ist die Frau für die Millimeterarbeit, für technische Pläne und die Details. Monika ist die Frau der Farben, Formen, fürs Grosse und Ganze. Die studierte Künstlerin reist gern in andere Länder und Metropolen. «Dort saugt sie alles auf, kommt zurück und weiss, was die Farben unserer nächsten Kollektion sind. Ich weiss gar nicht, wie sie das macht», sagt Sandra. Und Monika fügt hinzu: «Ich weiss auch nicht, wie ich es mache.» Sie ergänzen sich – Sandra zoomt ran, Monika zoomt raus –, und wenn sie über die Begabung der anderen sprechen, schwingt gegenseitige Bewunderung mit.
Quer über den Erdball Sandra und Monika umgibt eine Aura des Understatements. Sie blasen nichts auf, wollen niemanden blenden. Doch das heisst nicht automatisch, dass sie sich klein machen. «Wir wissen, dass wir gute Designerinnen sind. Wir fragen die Menschen nicht, ob ihnen unsere Brillen gefallen», sagt Sandra. «Wir wollen, dass sie uns gefallen, und gehen davon aus, dass sie anderen auch gefallen.» Damit fahren sie gut, wie der internationale Red Dot Design Award bezeugt oder die Liste ihrer Händler*innen, die sich quer über den Erdball spannen. «Es sind Boutique-Optiker*innen, die auf Messen gezielt kleine Kreativlabels wie uns suchen», sagt Sandra.
Auf grossen Messen wie in Mailand oder Paris stellen «Sol Sol Ito» ihre Brillen aus, nicht in den Showrooms der grossen Labels, sondern in Nebenausstellungen, für die sie sich vorab bewerben müssen. «Es ist wie ein schön designter Hühnerstall, in dem sich die kleinen Labels präsentieren und die Händler*innen am Schluss auf Entdeckungstour gehen», sagt Monika. «Wir brauchen diesen internationalen Markt. Im Ausland fahren sie mehr auf unsere farbigen Modelle ab – in der Schweiz wollen sie meist braune, graue oder schwarze Brillen.»
Auf die Frage, woher die beiden den Mut genommen haben, in den gesättigten Brillenmarkt einzusteigen, antworten sie mit einer Unaufgeregtheit, die für sie typisch ist: «Das haben wir uns gar nicht überlegt. Wir wollten einfach Brillen machen», sagt Sandra. Und Monika ergänzt: «Die Industrie kopiert sich selbst, aber es gibt auch Ausnahmen. Und zu diesen Ausnahmen wollen wir gehören. Dass wir etwas Eigenständiges kreieren, ist Ehrensache.»
80 Prozent Unisex-Modelle Mittlerweile umfasst die «Sol Sol Ito»-Kollektion 90 Modelle an Korrektur- und Sonnenbrillen in verschiedenen Farben, jede Serie auf hundert Exemplare limitiert. «Frauen tragen eher Männermodelle als Männer Frauenbrillen», sagt Sandra, die selbst gern Männermodelle trägt, weil der Kontrast sie reizt. Monika und Sandra wollen, dass Menschen eine Brille tragen, die ihnen gefällt, unabhängig irgendwelcher Normen (fast 80 Prozent ihrer Kollektion sind Unisex-Modelle). «Jedes Gesicht ist ein Unikat und für jedes Gesicht gibt es eine Brille, die die Persönlichkeit individuell einrahmt», sagt Sandra. «Die Menschen sollen sich zeigen, präsentieren und an ihrer Brille erfreuen.»
Ihre Ideen lassen Sandra und Monika in kleinen, lokalen Manufakturen produzieren: die Front in Norditalien, das Scharnier und die Bügel in der Schweiz. Dass ihre Brillen nachhaltig sind, ist ihnen wichtig. «Unsere Modelle gehen nicht schnell kaputt. Solange kein Auto drüberfährt, sind unsere Brillen reparierbar und etwa verbogene Bügel ersetzbar», sagt Sandra. Monika ergänzt: «Auch das Design spielt eine Rolle. Da es fernab von schnellen Trends eigenständig ist, sind die Brillen lange tragbar.»
«Als wir den Prototyp in Paris einem Händler zeigten, hat er ihn uns gleich abgekauft.»
Pride, Pippilotti Rist und Tamy Glauser Ihre Zielgruppe sind selbstbewusste, authentische, mutige und eigenständige Menschen. Weltoffene Persönlichkeiten, die eine reduzierte Formensprache mögen und gelegentlich Farbe tragen, Wert auf lokale Produktion legen und eine Art neuen Luxus suchen. Das Geschlecht, die Hautfarbe, das Alter oder die Herkunft spielen dabei keine Rolle. «Einer der schönsten Tage für uns im Jahr ist die Pride in Zürich, weil uns dort viele ‹Sol Sol Ito-Brillen entgegenstrahlen», sagt Monika. Auch zu ihren Kund*innen gehört die weltweit bekannte Künstlerin Pippilotti Rist, die ebenfalls in Zürich wohnt.
Vor zwei Jahren ist ein weiterer «Sol Sol Ito»-Fan hinzugekommen: das nicht-binäre Model Tamy Glauser. Es entstand eine Co-Creation zwischen Tamy, Sandra und Monika. Ihr erster Wurf war letztes Jahr das Modell «Abundance» — und jüngst der zweite Wurf namens «Surrender», der bewusst mit den Normen der Brillenbranche bricht. «Die Zusammenarbeit mit Tamy hat unseren Brand bereichert», sagt Sandra. «Tamy fordert, sie passt sich nicht an, hat einen hohen Anspruch ans Design und steckt voll kreativer Energie.» Ungezählte Stunden sassen sie zu dritt am Tisch in der Pflanzschulstrasse und entwarfen «Surrender» – in ihrem Sortiment das wohl bisher mutigste Modell. «Als wir den Prototyp in Paris einem Händler zeigten, hat er ihn uns gleich abgekauft.»
Der geirrte Name Doch was bedeutet eigentlich der Name «Sol Sol Ito»? «Monika war in den Neunzigern in einer kleinen Bucht gegenüber von San Francisco und hatte sich deren Namen als ‹Solsolito eingeprägt. Wir dachten super, den Namen nehmen wir. Er steht für Sonne, Lifestyle, Lebensfreude und fasst unsere Markenwerte zusammen», sagt Sandra. «Erst Jahre später, als wir für einen Designpreis in San Francisco eingeladen waren und über die Brücke zur Bucht radelten, mussten wir lachen, als wir das Ortsschild sahen. Dort stand ‹Sausolito.»
Das Credo von Sandra und Monika lautet: «Einfach anfangen und durchhalten, bis der Stein ins Rollen kommt. Und wenn es nicht funktioniert, tue etwas anderes.» Anfangs waren sie überrascht, wie ihr Umfeld auf ihre Idee reagiert hat, sich mit einem Brillenlabel selbstständig zu machen. «Seid ihr versichert? Was, wenn ihr krank werdet?» Sie haben sich nicht entmutigen lassen und Mentor*innen gesucht. «Es gibt viele erfahrene Menschen da draussen, die gern gratis helfen und Türen öffnen, wenn sie etwas spannend finden», sagt Sandra.
Corona und die flache Lesebrille Selbst in der Corona-Pandemie haben sie den Kopf nicht hängen lassen, sondern die Zeit genutzt für ein weiteres Projekt namens «Read On»: Eine flache Lesebrille, die in die iPhone-Hülle integriert ist. Die Gläser sind der typischen Button-Form von Apple nachempfunden und in vier Standard-Korrekturen im amerikanischen Amazon-Onlineshop erhältlich. Sandra freut sich: «Jetzt haben wir einen zweiten Brand. Ist das nicht cool?»
Selbstständig zu sein bedeutet «selbst» und «ständig» – auch bei Sandra und Monika. Langweilig wird es den beiden Frauen nicht. Nebenbei arbeitet Sandra als externe Uhrendesignerin und Co-Leiterin für den Bachelor Industriedesign an der Zürcher Hochschule der Künste. Monika besitzt ein Kunstatelier und ein Kimchi-Label (fermentiertes Weisskraut). «Klar reden wir sogar beim Abendessen über die Arbeit, aber in unserem Schrebergarten ist das absolut tabu», sagt Monika.
Ruf nach Welterfolg und Vielfalt Und wie soll die Geschichte weitergehen? Für Sandra und Monika ist ihr Liebhaberbrand «Sol Sol Ito» jetzt nach zehn Jahren perfekt, und mit ihm wollen sie weiterhin «crazy» Brillen machen. Mit der Lesebrille «Read On» denken sie an Grosses: «Wir haben sie als Massenprodukt konzipiert und wünschen uns, dass es ein Welterfolg wird», sagt Sandra. Und Monika ergänzt: «Wenn ‹Read On in den Apple Store käme, das wäre echt cool.»
Einen Wunsch haben sie noch, der über ihren eigenen Brand hinausgeht: «Die Welt der Unternehmer*innen soll toleranter und vielfältiger werden. Letztes Jahr gingen nur drei Prozent der Investitionen in der Schweizer Start-up-Szene an Frauen. Das ist nichts. Oder schöner ausgedrückt: Es hat noch Luft nach oben», sagt Sandra.
Nach dem Besuch in der Pflanzschulstrasse bleibt der Eindruck: In diesem Atelier haben Sandra und Monika ihre «Sol Sol Ito»-Geschichte begonnen zu schreiben, Kapitel um Kapitel fortgesetzt, unbeirrt von Rückschlägen, beflügelt von Erfolgen. Und dank dem unaufgeregten, positiven und selbstbewussten Holz, aus dem sie geschnitzt sind, stehen die Zeichen gut, dass für sie die Sonne weiterhin scheint: in Zürich und in den Metropolen dieser Welt.
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