«In Belgien wuchs eine Generation mit der Ehe für alle auf»

Interview mit Stijn Depoorter, Projektleiter bei Pink Cross

2003 war die Ehe für alle in Belgien niemals medial so präsent wie jetzt in der Schweiz, sagt Stijn Depoorter. (Bild: Sarah Van Looy)
2003 war die Ehe für alle in Belgien niemals medial so präsent wie jetzt in der Schweiz, sagt Stijn Depoorter. (Bild: Sarah Van Looy)

Stijn Depoorter wurde in den Achtzigern in Belgien geboren – in einem Land, in dem seit 18 Jahren gleichgeschlechtliche Ehen möglich sind. Nach seinem Journalismusstudium arbeitete er beim flämischen LGBTIQ-Verband «çavaria» und beim queeren Magazin ZIZO.

Stijn, die Ehe für alle wurde in Belgien 2003 eingeführt. Was sind deine Erinnerungen an das Ereignis? Das Thema war medial niemals so präsent wie gerade in der Schweiz, wahrscheinlich weil die Schweizer Bevölkerung aufgrund der direkten Demokratie viel stärker mobilisiert werden musste. Ich erinnere mich an ein paar Zeitungsberichte ein paar Wochen vor dem parlamentarischen Entscheid, an den Entscheid selbst und die Schlagzeilen danach. Und an das schöne Gefühl, in jener Hinsicht endlich gleichberechtigt zu sein.

Warst du damals politisch aktiv? Nein, ich war damals erst 20, studierte noch und war gerade frisch in einer Beziehung – für (m)eine Ehe zu kämpfen, war nicht meine erste Priorität (lacht).

Was für Erinnerungen hast du an die Zeit vor 2003? Ich bin aufgewachsen mit der Gewissheit, dass ich nicht heiraten darf, falls ich mein Leben mit einem Mann verbringen werde. Es gab auch nicht viele queere Vorbilder in den Medien, und LGBTIQ-Themen waren lange nicht so präsent wie heute.

Wie ging es weiter? Ab diesem Zeitpunkt wurde es mehr und mehr normal, dass Schwule, Lesben und Bisexuelle im eigenen Umfeld heirateten. Viele meiner belgischen Freund*innen sind schon jahrelang verheiratet oder haben sogar schon ein Kind . . .

Ist Leihmutterschaft ein Thema in Belgien? Sie ist gesetzlich nicht geregelt. Das bedeutet, dass es nicht verboten ist, aber dass es auch keinen rechtlichen Schutz für die zukünftigen Eltern und Kinder gibt. Soweit ich weiss, arbeitet das Parlament gerade daran.

Die Eheöffnung ist noch lange nicht die Lösung aller Probleme

Wie sieht es aus mit Leuten, die jünger sind als du? Mittlerweile gibt es eine Generation, die mit der Selbstverständlichkeit aufwächst, heiraten zu dürfen – egal ob hetero oder queer. Das ist schon eine ziemlich grosse Veränderung in der Mentalität. Man spürt auch, dass sich junge Belgier*innen ihrer Privilegien bewusst sind, etwa wenn Backlashs aus Ländern wie Ungarn oder Polen zu reden geben. Sie wissen, dass ihre Rechte nicht selbstverständlich sind und sie aufmerksam bleiben sollten, um sie nicht wieder zu verlieren.

Wie äussert sich das? In Serien wie der flämischen Version von «Gute Zeiten, Schlechte Zeiten» gibt es heute vermehrt queere Charaktere, die heiraten oder schon verheiratet sind. Oder auch viele Promis, die in Magazinen porträtiert werden. Ich bin überzeugt, dass die Ehe für alle zur Normalisierung beiträgt und die Hemmung senkt, sich öffentlich zu outen.

Das klingt nach einem ziemlichen Idealzustand. Die Eheöffnung ist noch lange nicht die Lösung aller Probleme; eine Gesellschaft hört nicht von heute auf morgen auf, homo- und transphob zu sein. In Belgien hat sich die mentale Gesundheit der Queers nicht gross verbessert nach der Gesetzesänderung. Kürzlich ergab eine Umfrage, dass 40% der queeren flämischen Jugendlichen sich im Schulalltag nicht sicher fühlen. «Schwul» ist auch in Belgien immer noch ein Schimpfwort. Klar ist es schön, in Sachen Ehe die gleichen Rechte zu haben, aber in einer idealen Welt leben wir deswegen noch lange nicht.

Sprichst du aus Erfahrung? In Belgien ist tatsächlich eine Alters­lücke zu beobachten: Es gibt wie gesagt die ganz Jungen, die selbstbewusst und offensiv auf sozialen Medien ihrer Stimme Gehör verschaffen; die ältere Generation, die zuerst die HIV-Epoche erlebte und danach für die gleichgeschlechtliche Ehe kämpfte; aber dazwischen – also Leute, die jetzt vielleicht in ihren Dreissigern, Vierzigern sind – gibt es viel weniger Aktivist*innen.

Was ist dein Blick «von aussen» auf die Schweiz? Als ich in die Schweiz kam und merkte, dass wir hier noch nicht heiraten dürfen, war ich ziemlich überrascht. Ich dachte: «Hä? Ich bin doch hier in einem westlichen und ziemlich reichen Land ». Jetzt freue ich mich auf die Generation, deren Tanten, Onkel und Bekannte ihre gleichgeschlechtliche Partner*innen heiraten dürfen.

Das Schweizer Stimmvolk hat am 26. September Ja gesagt (MANNSCHAFT berichtete). Wie geht es weiter mit der Ehe für alle? Hier die wichtigsten Fragen.

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