Sitzen ein Schwuler und eine Lesbe auf einer Parkbank …

Warum bestehen Menschen trotz aller Versuche, gesellschaftliche Ungleichheiten zu vermeiden, gern auf Unterschiedlichkeiten?

Eine Begegnung auf Augenhöhe? «Wir alle sind in soziale Hierarchien eingebettet», sagt Emilia Roig. (Bild: Susanne Erler)
Eine Begegnung auf Augenhöhe? «Wir alle sind in soziale Hierarchien eingebettet», sagt Emilia Roig. (Bild: Susanne Erler)

Nein, wir erzählen hier keine Witze über Schwule und Lesben. Stattdessen: Ein Gespräch über die Klischees, die in unserer Community herumgeistern. Sie mögen humorvoll gemeint sein, sprechen jedoch Bände über die geltenden Hierarchien in unserer Gesellschaft. Wo reichen sich männliche und weibliche Homosexuelle die Hände, wo könnten wir unterschiedlicher nicht sein?

Vereint unter einer Flagge scheint es, als verbinde homosexuelle Frauen und Männer einiges. So sind sie beispielsweise auf einer gemeinsamen Pride anzutreffen und stellen heteronormative Werte hinsichtlich ihrer Allgemeingültigkeit in Frage. Aber reicht das, um sie in ein und dieselbe Schublade sortieren zu können?

Legendäre lesbische Piratinnen mit Statuen geehrt

Die Geschichte lehrt uns, dass Menschen trotz aller Versuche, gesellschaftliche Ungleichheiten zu vermeiden, gern auf Unterschiedlichkeiten bestehen (dazu auch unser Kommentar: «Schwuppen» gegen «Kampflesben» – was soll das?). Vielleicht, weil es ihnen ein Gefühl von Anerkennung und Einzigartigkeit verleiht. Vielleicht aber auch, weil erst dadurch eine Abgrenzung zu denjenigen möglich wird, mit denen man sich weniger verbunden fühlt. MANNSCHAFT-Autor Martin Busse und Emilia Roig, Direktorin des Center for Intersectional Justice in Berlin, philosophieren in einem Zwiegespräch über die Beziehung zwischen Lesben und Schwulen.

So viel zum Klischee Martin: Lesbische Frauen haben oft kurze Haare, kein Stilempfinden und füllen ihre Freizeit am liebsten mit Outdoor-Aktivitäten. Sie schminken sich nicht, trinken Bier statt Wein und hören Musik von Joni Mitchell oder Pink. Im queeren Clubleben sind sie nahezu unsichtbar. Auch politisch fallen sie deutlich seltener durch lauten Aktionismus auf als wir das tun. Wir, das heisst wir schwulen Männer. Was sie uns aber voraushaben, ist ihr Vermögen, monogame, lange währende Partnerschaften einzugehen. Lesben sind selten Single. Im Bett sind sie dafür wenig experimentierfreudig. Ihr Sex beschränkt sich auf Oralverkehr und das gegenseitige Befriedigen mit Hilfsmitteln wie Dildos . . . Ich könnte diese Aufzählung ewig weiterführen, wenngleich ich mir über deren Unsinnigkeit komplett bewusst bin. Nur zeigt das eben, wie hartnäckig sich verschiedene stereotype Ideen in meinem und den Köpfen vieler anderer festgesetzt haben. Ein Problem, dem man am besten mit reflektiertem Nachdenken entgegentritt. Oder was meinst du, Emilia?

Stereotype sind Spiegel dominanter Perspektiven Emilia: Lesben fallen deutlich seltener durch lauten Aktionismus auf, weil Frauen generell über weniger Macht in der Politik und den Medien verfügen. Das heisst aber nicht, dass sie weniger aktivistisch sind. Ich würde sogar das Gegenteil behaupten. Was lesbischen Sex betrifft, so wird dieser sowohl von schwulen als auch von heterosexuellen Männern abgewertet, weil Sex ohne Penis nicht als «richtiger» Sex wahrgenommen wird.

Oft gehen wir davon aus, dass wir uns auf Augenhöhe begegnen. Dem ist aber nicht so. Männer, Frauen, weisse Menschen, People of Color, Menschen mit und ohne Behinderung, Heteros, Queers, trans*, cis, wir alle sind in soziale Hierarchien eingebettet. Klischees sind keine neutralen Bilder oder Repräsentationen, die aus dem kollektiven Verstand heraus entstanden sind. Sie sind eine Spiegelung der Sichtweise dominanter Gruppen in der Gesellschaft. Wir würden nicht auf die Idee kommen, von einer Hetero­kneipe, weisser Musik, Männerpolitik, Männerfussball, männlicher Literatur oder Männerpornos zu sprechen. Deshalb sollten wir uns fragen: Wer hat das Privileg, andere zu definieren?

Junge Menschen lehnen das Schubladendenken viel häufiger ab.

Hoffnungsschimmer Martin: Touché. Obwohl es mich interessiert hätte, zu erfahren, welche stereotypen Schwulenbilder unter lesbischen Frauen kursieren, ist dein Einwurf ein wichtiger. Wir können uns gar nicht oft genug vergegenwärtigen, dass unsere Gedanken und Einstellungen durch geltende Normen und Werte mitbestimmt werden. Nur so ist es überhaupt möglich, eingefahrene mentale Muster aufzubrechen und Diskriminierungen entgegenzuwirken. Selbst, wenn das manchmal wie ein Kampf gegen Windmühlen erscheinen mag. Die Psyche ist eben ein faules Gewohnheitstier und reagiert oft mit Widerwillen, wenn man sie aktiv beanspruchen und bewegen will. Hier spricht der angehende Psychologe aus mir.

From the bottom to the top: Fallt nicht auf die Hetero-Norm rein!

Lernen können wir jedoch von denjenigen, denen wir ihre Lebenserfahrung und ihr Recht, gehört zu werden, nur allzu gern absprechen: unseren Nachfolgegenerationen. Durch deren Reihen weht ein frischer Wind. Junge Menschen lehnen das Schubladendenken viel häufiger ab als es ihre älteren Geschwister, ihre Eltern oder Grosseltern tun. Wenn man sich mit ihnen unterhält, wie ich das in meiner Arbeit oft tue, erweckt es den Eindruck, als würden sie vermehrt versuchen, Brücken zwischen Minoritäten zu bauen und Schirme zu spannen, unter denen möglichst viele Benachteiligte gleichzeitig Schutz finden können.

Differenzen, anerkennen und zelebrieren Emilia: Es gibt kaum Vorurteile gegenüber dominanten Gruppen. Kannst du mir Stereotype über weisse Menschen, über Heteros oder über Menschen ohne Behinderung nennen? Schwule Männer sind in der Regenbogen-Community die Privilegiertesten. Hättest du mich allgemein zu Klischees über Schwule gefragt, die aus dem Hetero-Mainstream stammen, hätte ich dir eine ganze Liste liefern können.

Zu unseren Nachfolgegenerationen: Ich bin auch der Meinung, dass sie uns Hoffnung schenken. Allerdings nicht, weil sie das Schubladendenken ablehnen. Vielmehr, weil sie vorhandene Unterschiede anerkennen, anstatt sie zu verteufeln. Sie haben keine Angst vor Labels, weil diese an sich nicht das Problem sind. Deswegen ergänzen sie das LGBTIQ-Akronym auch wieder und wieder um neue Buchstaben. Was sie aber ablehnen sind die Hierarchien, die mit Differenzen verbunden sind. Warum haben wir überhaupt ein Problem mit Unterschieden? Bei Augenfarben stört uns das zum Beispiel auch nicht. Kategorisierungen sind nur dann problematisch, wenn sie Menschen auf unterschiedliche Stufen stellen. Stufen, die die einen als überlegen und die anderen als unterlegen darstellen. Brücken zwischen Minderheiten zu bauen und Schirme zu spannen, ist nur möglich, wenn wir alle anerkannt und gesehen werden.

homosexuell
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Sinn und Zweck der Community Martin: Hier prallen zwei Auffassungen aufeinander. Zwei Welten, die vermutlich in unseren verschiedenen beruflichen Hintergründen, den Erfahrungen, die wir in der Vergangenheit gesammelt haben, und vielleicht auch unserem jeweiligen Zugehörigkeitsempfinden begründet sind. Für mich ist es allerdings schön, festzustellen, dass wir uns in einem Punkt einig sind. Nämlich, dass es ein Potenzial zu geben scheint, Ungleichheiten zwischen Menschen ausräumen zu wollen. Egal, ob mithilfe der Anerkennung oder dem Versuch der Aufhebung von Unterschiedlichkeiten.

Was mich schon eine Weile beschäftigt – und vielleicht hast du eine Idee dazu – ist, inwiefern eine gemeinsame Community uns in diesem Zusammenhang helfen und vertreten kann? Was ist es, dass Lesben und Schwule, aber auch queere oder trans Menschen, miteinander verbindet? Und warum schliessen wir kategorisch aus, auch heterosexuelle, nicht queere Personen in unsere LGBTIQ-Gemeinschaft zu integrieren? Immerhin diskutieren wir nicht, ihnen ein «H» zu widmen. Ist es also die Abweichung von der Norm, die derart wichtig ist, dass sie uns als Interessengruppe definiert?

Eine Gemeinschaft ist nur so stark wie ihr marginalisiertestes Mitglied Emilia: Die Abweichung von der Norm verbindet uns. Der gemeinsame Kampf gegen Trans-, Homo- und Bi-Diskriminierung tut es aber noch viel mehr. Heterosexuelle, nicht queere und cis-Menschen können – beziehungsweise sollten – sich diesem Kampf gern anschliessen. Ein «H» brauchen sie dennoch nicht, weil sie indirekt von besagten Diskriminierungen profitieren. Ausserdem erfahren sie keinerlei Nachteile aufgrund ihrer sexuellen Orientierung. Oft gehen wir davon aus, dass Bewegungen wie die queere oder feministische frei von Ungleichheiten seien, weil deren Mitglieder selbst von gesellschaftlichen Ausschlüssen betroffen sind. Das aber ist ein Trugschluss.

Minderheiten und Machtgefälle gibt es auch innerhalb dieser Bewegungen. Das gilt es zu erkennen und auch im innersten Kreis für Gerechtigkeit zu sorgen. Die Erkenntnis, dass es Diskriminierung, Ungleichheiten und Ausschlüsse auch innerhalb unserer Community gibt, schwächt sie nicht, es macht sie stärker. Glaubst du trotzdem, dass Unterschiede aufgehoben werden sollten, um Ungleichheiten auszuräumen?

Akzeptiert Martin: Ich würde mir wünschen, dass wir Menschen generell mehr Akzeptanz füreinander ausübten. Unabhängig davon, was uns verbindet und was uns trennt. Du sprichst die Ausgrenzungen innerhalb unserer Community an. Diese erlebe ich ebenfalls. Selbst unter uns Schwulen gibt es immer wieder Subgruppen, die sich zu emanzipieren versuchen. Mal mehr, mal weniger glücklich. So wird zwischen femininen und maskulinen schwulen Männern, zwischen Ottern, Twinks, Bären und unzähligen anderen Typen unterschieden. Solange wir Freude an diesen Kategorisierungen haben und sie nicht als Grundlage für Mobbing oder Demütigungen nutzen, kann ich gut mit ihnen leben. Mir ist nur wichtig, dass wir die Dinge, die wir tun, ab und zu hinterfragen. Dass wir offen für Hinweise und Rückmeldungen von aussen bleiben. Ich habe gelernt, dass mich das zu einem zufriedeneren Menschen macht.

Als ich auf der Hochzeit zweier lesbischer Freundinnen war, sie in weissen Brautkleidern, geschminkt und überglücklich den Gang entlang zur Traurednerin schreiten sah, blickte ich mich um. Unter den Gästen befanden sich verschiedenste Charaktere. Queer, hetero, schwarz, weiss, dick, dünn, männlich, weiblich. Leute, die sich vielleicht nie begegnet wären. Verbunden waren wir in diesem Moment trotzdem. Verbunden durch ein Gefühl von bedingungsloser Liebe. Ob zwischen Lesben und Schwulen, zwischen der Community und der Aussenwelt, ich denke, davon kann es auf diesem Planeten wirklich nie genug geben.

Es ist unsere Unfähigkeit, Unterschiede zu erkennen, zu akzeptieren und zu feiern.

Für mehr Liebe: Macht und Privilegien sichtbar machen Emilia: Wir müssen eine Linie zwischen Kategorisierungen, die Grundlage für gesellschaftliche Diskriminierungen sind, und denen, die es nicht sind, ziehen. Die Subgruppen, die du nennst, sind Subkulturen – mit Ausnahme vermeintlich femininer und maskuliner schwuler Männer. Es handelt sich dabei nicht um soziopolitische Kategorien, die zu Ungleichheiten führen, wie etwa Geschlecht oder Hautfarbe. Wenn wir für mehr Gerechtigkeit und mehr Liebe kämpfen wollen, müssen wir verstehen, wie Ungleichheiten entstehen. Dafür müssen wir die Hierarchien und die Privilegien, die die Entmenschlichung von vielen Gruppen erlauben, aufbrechen und sichtbar machen. Das heisst nicht, einzelne Identitäten gegeneinander aufzuhetzen.

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Ganz im Gegenteil: Diejenigen, die sich auf der bevorteilten Seite befinden, sollten Empathie und Solidarität zeigen, indem sie ihre Privilegien nicht verleugnen, sondern anerkennen, dass andere dadurch benachteiligt werden. Wir dürfen unsere Andersartigkeiten nicht ausblenden. Wie die US-amerikanische Schriftstellerin und Aktivistin Audre Lorde so schön sagte: «Es sind nicht unsere Unterschiede, die uns trennen. Es ist unsere Unfähigkeit, diese Unterschiede zu erkennen, zu akzeptieren und zu feiern.»

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