Gott ist queer – So funktioniert Inklusion in der Kirche
In Kolumbien will der offen schwule Pastor Jhon Botía die Vorurteile gegenüber LGBTIQ bekämpfen – mit Religion
Tödliche Gewaltverbrechen gegen queere Menschen sind in Kolumbien Alltag. Jhon Botía lässt sich davon nicht einschüchtern – er ist der erste offiziell homosexuelle Pastor des Andenstaates. Ein Besuch in der Iglesia Metodista in Bogotá.
Am Rand von Kolumbiens Hauptstadt, unterhalb eines Meeres bunter Häuser, die sich an den Bergen dramatisch emporstapeln, liegt ein unscheinbarer Ort. Wüsste man es nicht besser, man käme wohl kaum auf die Idee, dieser trostlose Betonplatz mit dem heruntergekommenen Bungalow könnte im Leben einiger Menschen eine zentrale Rolle spielen. Doch das, was alles andere als heilig aussieht, ist ein Ort Gottes – die methodistische Kirche von Bogotá.
Im Inneren des Bungalows befinden sich zwei Räume. Im rechten werden Gottesdienste abgehalten. Grosse Fenster, Plastikstühle, am Kopf ein hölzernes Kreuz. In den Raum links daneben dringt kaum Tageslicht. Steiniger Kellergeruch, feucht und kalt. Ein kleiner Schreibtisch und ein massiver Kleiderschrank passen gerade so in das Büro des Pastors.
Auf seinem Tisch stehen zwei Fahnen – eine hat die Farben des Regenbogens, weltweit als Symbol für Vielfalt und Toleranz bekannt. Die andere ist hellblau, pink und weiss – die Transgender-Flagge. Ein Bild an der Wand zeigt das bärtige Gesicht eines Mannes, das in bunten Farben schillert. «Gott ist queer. Ob schwarz, indigen, trans oder alles zusammen – Gott ist das, was du willst», sagt Jhon Botía.
Ein Social-Media-Stratege im Haus Gottes Jhon ist ein evangelischer Pastor. Er ist der Kopf der methodistischen Kirche von Bogotá. Und er ist schwul. Mit seiner Arbeit möchte er die Vorurteile gegenüber der LGBTIQ-Community bekämpfen. Denn für ihn ist queer und gläubig sein kein Widerspruch.
Jhon ist nicht gerade das, was man sich unter einem klassischen Pastor vorstellen würde. Anfang 30, weisse Turnschuhe, eng sitzendes schwarzes Shirt. Neben seiner Tätigkeit in der Kirche arbeitet er in einem Unternehmen, das Social-Media-Strategien entwickelt.
Nimmt man seine eigenen Aktivitäten in den sozialen Netzwerken zum Massstab, dürfte Jhon für seine Kolleg*innen schwer entbehrlich sein. Auf Instagram zählt seine Gefolgschaft knapp 12 000 Follower, auf TikTok hat der junge Geistliche sogar fast 17 000 Fans. Auf seinen Fotos und in seinen Videos versucht Jhon auf humorige Weise aufzuklären, macht sich mal über homosexuelle Stereotypen lustig, greift Hasskommentare auf und argumentiert sie in Grund und Boden oder postet Videos aus Veranstaltungen in der Kirche, die teilweise eher an einen Discobesuch erinnern als an einen Gottesdienst.
Die nationalen Medien feiern ihn als ersten schwulen Pastor des Kontinents. Kolumbien reiche ihm schon, meint Jhon. Wenn er lacht, bilden sich tiefe Grübchen um seine Mundwinkel und lassen ihn noch jünger aussehen, als er sowieso schon ist. Seine Worte wählt Jhon mit Ruhe und Bedacht. Obwohl er seine Geschichte schon unzählige Male erzählt haben muss, lässt er kein Detail aus. Immer wieder zitiert er aus dem Neuen Testament, als wolle er seine Erzählung biblisch legitimieren.
«Kinder werden ohne Vorurteile geboren» Vor 14 Jahren kam Jhon nach Bogotá. Der junge Jhon wuchs in Villavicencio auf, der Hauptstadt des Bundesstaates Meta, gute drei Autostunden von der über 2600 Meter hoch gelegenen Millionenmetropole entfernt.
Jhon entdeckte seine Homosexualität mit sechs Jahren, als er sich in einen anderen Jungen im Kindergarten verliebte. «In diesem Alter verspürte ich natürlich noch kein sexuelles Verlangen, aber es war für mich einfach unglaublich toll, mit diesem Jungen Zeit zu verbringen», erinnert er sich. Als Jhon älter wurde, hörte er Leute oft abschätzig zu seinen Eltern sagen, dass er eine «Schwuchtel» sei. Zu diesem Zeitpunkt wusste er noch nicht, was das bedeuten sollte. Ein Kind werde nicht mit Vorurteilen geboren, sagt Jhon. «Ich war unschuldig. Die anderen Kinder fragten mich, warum ich so stark mit meinen Händen gestikuliere und warum ich anders sei als die anderen. Ich wusste keine Antwort darauf.» Er fing an zu recherchieren, fand im Internet mehr über die Dinge heraus, die ihm zu Ohren kamen.
Der Anfang eines Doppellebens Geboren in eine religiöse Familie, trat Jhon mit zwölf Jahren in die Kirche der Mormonen ein. Mit 17 ging er zum ersten Mal in eine Schwulendisco, die einzige in der Stadt. Tags darauf rief ihn der Pastor zu sich – man hatte ihn gesehen. Die Geistlichen redeten ihm ein, dass Homosexualität nicht mit der christlichen Lehre vereinbar sei. Von diesem Tag an führte Jhon ein Doppelleben. Er bat Gott um Hilfe, flehte, ihn von dieser Krankheit, wie sie es nannten, zu heilen.
Heute weiss Jhon, dass es nichts zu heilen gab. Doch erst eine schwere Lungenerkrankung öffnete ihm die Augen. Er überlebte und schwor, sich nicht weiter zu verstecken. «Ich wollte mein Leben leben. Und ich wollte allen queeren Menschen da draussen mitteilen, dass Homosexualität keine Sünde ist.»
«Mein Vorgänger sagte mir, Gott würde mich rufen.»
Jhon Botía begann nach einer Kirche zu suchen, die seine Homosexualität akzeptierte. Über hashtags wie #cristianosgays fand er schnell Gleichgesinnte, die sowohl ihre Homosexualität als auch ihren Glauben ausleben wollten. So wurde das redconciliar geboren, ein Netzwerk der Versöhnung, in dem Menschen zusammenkommen, die sich als schwule Gläubige akzeptieren wollen und sich gegenseitig Mut machen.
Aus anfänglichen Treffen zuhause wurden bald grössere Zusammenkünfte im LGBTIQ-Zentrum von Teusaquillo, einem Nachbarbezirk von Chapinero, wo sich die Iglesia Metodista befindet. Zu den Treffen kamen nicht nur Gläubige, sondern auch andere Mitglieder der LGBTIQ-Community. Jhon lernte dort seinen heutigen Freund Fabio Hernando Meneses kennen, der ihm von der Iglesia Metodista erzählte. Als Jhon ein paar Tage später die Kirche besuchte, wurde ihm klar, dass er gefunden hatte, wonach er suchte.
«Wir sind die erste Kirche Kolumbiens, die sich öffentlich inklusiv positioniert.»
Queerness ist kein neues Thema dieser Kirche Jhon hatte nie daran gedacht, Pastor zu werden. «Aber mein Vorgänger sagte mir, ich hätte eine besondere Gabe und Gott würde mich rufen.» So bekam er eine einjährige Ausbildung, besuchte andere Standorte der Glaubensgemeinschaft. Die Methodistische Kirche – eigentlich Evangelisch-Methodistisch – ist eine Kirche, die sich in ihrer Theologie nicht gross von der reformatorischen Lehre abgrenzt, in der sie als Evangelische Kirche auch ihren Anfang hat. Das Evangelium von Jesus Christus ist das Fundament des methodistischen Glaubens. Der Unterschied liegt mehr im Selbstverständnis. Die Methodist*innen begreifen sich als eine tolerantere Glaubensgemeinschaft, was erklärt, warum viele Anhänger*innen der Kirche eher progressiv denken.
So ist Queerness kein neues Thema für die kleine Kirche im Norden Bogotás. Schon Jhon Botías Vorgänger sprach von sexueller Diversität. Homosexuelle Gläubige besuchen den Gottesdienst nicht erst, seitdem der schwule Pastor dort predigt. 80 Prozent der Gläubigen, die in die Kirche kommen, sind queer, schätzt Jhon. «Wir sind die erste Kirche Kolumbiens, die sich öffentlich inklusiv positioniert. Deshalb kommen die meisten Menschen, die unsere Gemeinde besuchen, aus der LGBTIQ-Community.»
Geht man durch den Stadtteil Chapinero, in dem die Kirche Jhons liegt, passiert man viele Schwulenbars, sich küssende Männer sind keine Seltenheit. Die Szenerie erinnert an die Motzstrasse in Berlin oder die Langstrasse in Zürich. Überhaupt gibt es in Kolumbien viele Dinge, die eher an eine progressive Gesellschaft erinnern, wenn es um Homosexuelle geht: Die 51-jährige Oberbürgermeisterin von Bogotá, Claudia López Hernández, ist lesbisch; die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare ist legal (MANNSCHAFT berichtete), ebenso die Adoption von Kindern durch Homopaare. Dennoch steigt die registrierte Zahl tödlicher Hassverbrechen gegen Menschen aus der LGBTIQ-Community kontinuierlich an. In Lateinamerika ist Kolumbien nach Brasilien das Land mit der zweithöchsten Mordrate von Menschen, deren sexuelle Orientierung von der sogenannten Norm abweicht.
Hohe Mordrate an LGBTIQ-Personen Während die Gesamtzahl der Tötungsdelikte und Bedrohungen im Land auf ein Niveau gesunken ist, das es seit 40 Jahren nicht mehr gegeben hat, ist bei Lesben, Schwulen, Bisexuellen und trans Personen das Gegenteil der Fall: Hier ist die Mordrate erheblich gestiegen, wie aus dem jüngsten Menschenrechtsbericht der NGO Colombia Diversa mit dem Titel «Nichts zu feiern» hervorgeht, der letztes Jahr mitten im Pridemonat veröffentlicht wurde.
2020 war das Jahr, in dem mehr LGBTIQ-Personen getötet, bedroht oder Opfer von Polizeigewalt wurden als jemals zuvor, seitdem solche Werte erfasst werden. Dem Bericht nach gab es mit 226 registrierten Morden an LGBTIQ-Menschen 2020 doppelt so viele tödliche Hassverbrechen wie im Jahr zuvor.
«Kolumbien ist ein Land vieler progressiver Gesetze, die nicht unsere Kultur reflektieren», sagt Jhon, während er im grossen Raum die Plastikstühle für den Gottesdienst am nächsten Morgen aufreiht. Auch die Hauptstadt sei davon nicht ausgenommen. «Dass wir mit Chapinero einen Schwulenbezirk und mit Claudia López Hernández eine lesbische Bürgermeisterin haben, darf nicht davon ablenken, dass Bogotá homophob ist.»
Aus einer Umfrage von 2019 geht hervor, dass fast die Hälfte der Bogotaner*innen der Meinung ist, das Recht von LGBTIQ-Personen, Kinder aufzuziehen oder zu adoptieren, sollte eingeschränkt werden. 29 Prozent der Hauptstädter*innen stimmen ausserdem der Aussage zu, dass LGBTIQ-Personen eine Gefahr für die Gesellschaft darstellten.
Der Bericht sei bestürzend, aber immerhin zeige er, dass die Jugendlichen von 16 bis 25 am ehesten mit gleichen Rechten für die LGBTIQ-Community einverstanden seien, sagt Jhon, daraus schöpfe er Hoffnung.
Die Kirche als Safe Space Tags darauf hat Jhon zum Gottesdienst geladen. Die Messe ist natürlich auch live über Youtube streambar. Der Pastor erscheint mit neuer Frisur, Seiten gekürzt, die Haare akkurat nach hinten gegelt. Warmes Licht schimmert durch die bunten Kirchenfenster, macht den Schein der grellen Büroleuchten im Inneren ein bisschen erträglicher.
Jhon hat sich in der Mitte einer Art Bühne vor dem grossen Kreuz positioniert. Sein Macbook, das auf einem Notenständer vor ihm befestigt ist, unterstützt ihn bei seiner Begrüssungsrede. Die Anwesenden sitzen coronakonform in den weissen Plastikstühlen über den ganzen Raum verteilt. Der Pastor teilt sich die Bühne mit einem Schlagzeuger und einer Frau am Keyboard, hinter ihm steht ein Junge mit Mikro, vielleicht um die 20, der gleich leidenschaftlich singen wird. Das Ganze Set-up erinnert überhaupt vielmehr an ein Popkonzert – jedenfalls aus einer mitteleuropäischen Perspektive.
Auf Jhons einführenden Worte folgt dann auch schon das erste Singen. Auf einem Flatscreen, der an der Wand hängt, wird der Liedtext eingeblendet. Das Szenario wirkt wie ein Gospel-Church-Gottesdienst, nur auf Spanisch und in Kolumbien. Jhon und der Junge am Mikro bewegen sich im Rhythmus des Schlagzeugs, verleihen ihrem Gesang mit händischen Gesten Nachdruck. Auch die Gemeinde ist aufgestanden, bewegt sich zur Musik, klatscht im Takt.
So geht es für die nächsten anderthalb Stunden weiter. Der Pastor predigt, liest aus der Bibel, interagiert mit der Gemeinde – nicht nur beim gemeinsamen Singen. Die Anwesenden halten Fürbitten, stellen Fragen, die Jhon beantwortet. Für den Betrachter zeigt sich ein angeregtes, vertrautes Miteinander einer Gruppe, die aufeinander angewiesen ist.
Die Iglesia Metodista in Chapinero ist ein Safe Space für Menschen, die ihre sexuelle Orientierung und gleichzeitig ihren Glauben frei ausleben möchten. Obgleich man die Bedeutung dieser Gemeinde nicht oft genug hervorheben könnte, stimmt die Notwendigkeit eines solchen Ortes Jhon traurig. Wenn er eines Tages alt ist, so hofft er, sollen die jungen Queers in Kolumbien nicht mehr so leben müssen, wie er es heute tut, mit all der Intoleranz und dem Hass. Für diese Hoffnung will Jhon weiterkämpfen – egal ob auf Instagram, Tiktok oder in seiner Kirche am Rand von Bogotá.
Kürzlich heiratete das erste homosexuelle Paar in Chile: Javier Silva und Jaime Nazar. Die beiden haben schon zwei Kinder (MANNSCHAFT berichtete).
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