«Im Sport offen schwul zu sein, ist noch nicht selbstverständlich»
Auf dem Programm der Eurogames 2023 stehen Sportarten von Fussball über Quidditch bis Rollerderby
Im Sommer 2023 finden die Eurogames Bern 2023 statt. Für den grössten LGBTIQ-Sportanlass Europas konnte das Organisationskomitee vier teils ehemalige Spitzensportler*innen gewinnen.
In perfekter Symmetrie ziehen die acht Bahnen ihre Runden. Der Belag ist rot, das Gras in der Mitte saftig grün. Die Leichtathletikanlage Wankdorf im nördlichen Teil der Stadt Bern ist einer von mehreren Schauplätzen der «EuroGames Bern 2023». Das ist Europas grösster LGBTIQ-Sportanlass, der jährlich in einer anderen Stadt ausgetragen wird, vom 26. bis 29. Juli 2023 in der Schweiz (MANNSCHAFT berichtete).
Die Leichtathletikanlage Wankdorf hat eine besondere Bedeutung für Christa Wittwer. «Das ist mein Zuhause», sagt die fünffache Schweizermeisterin im Speerwerfen. Dass sie lesbisch ist, weiss sie, seit sie 13 Jahre alt ist. Sie hatte sich stets Mühe gegeben, ihre Beziehungen vom Sport zu trennen, denn das Wankdorf war ihr Safe Space. «Ich hatte Angst, diskriminiert zu werden, wenn ich vor allen dazu stehe.»
Ich sagte mir: Was soll’s. Dann weiss es die ganze Schweiz.
«Ich wurde in die Arme genommen» Das änderte sich 2016. Die Schweizer LGBTIQ-Community rüstete sich für den Kampf gegen die Initiative der damaligen CVP-Partei, die die Ehe als Institution zwischen Mann und Frau in der Bundesverfassung verankern wollte. Christa liess sich von ihrer damaligen Freundin dazu überreden, bei der Abstimmungskampagne mitzumachen und gemeinsam als Paar vor die Kamera zu stehen. «Ich sagte mir: Was soll’s. Dann weiss es die ganze Schweiz», sagt Christa. Sie erinnert sich, wie sie einen Tag nach Veröffentlichung der nationalen Kampagne für einen Wettkampf ins Stadion kam: «Ich wurde in die Arme genommen, als wären wir eine Riesenfamilie.»
«Ich würde es sofort wieder machen», sagt Christa. Und das tat sie auch. Gemeinsam mit drei anderen prominenten Sportler*innen wurde sie zur Botschafterin für die Eurogames Bern 2023. Zu ihnen gehören die ehemalige Schweizer Rekordhalterin im Marathon, Maja Neuenschwander, Schwinger Curdin Orlik und Basketballer Marco Lehmann. Das Coming-out der beiden Letzteren wurde mit grossen Schlagzeilen von den Schweizer Medien begleitet, Curdin 2020, Marco ein Jahr später.
Christa Wittwer
Die fünffache Schweizermeisterin im Speerwerfen freut sich, dass die Eurogames Bern 2023 auch cis-hetero-sexuellen Teilnehmenden offensteht. «Ich war schon immer gegen Ausgrenzungen. Eine bunte Durchmischung ist mir wichtig», sagt sie.
Coming-outs von Männern im Spitzensport sind rar und sorgen in den Medien für viel Aufsehen. Lesbische und bisexuelle Frauen fliegen eher unter dem Radar. Christa und Maja sind zwei von 26 lesbischen Spitzensportlerinnen, die im Buch «Vorbild und Vorurteil» porträtiert werden. Toxische Männlichkeit und Homophobie im Mannschaftssport sind nur ein Teil der Gründe, weshalb sich Männer im Profisport weniger outen. «Im Frauensport ist weniger Geld vorhanden, dementsprechend ist die Angst vor den möglichen Konsequenzen eines Coming-outs geringer», sagt Maja. «Das Buch ‹Vorbild und Vorurteil› zeigt die Diversität der lesbischen Sportlerinnen in Bezug auf Alter, Sportart und persönliche Geschichten. Ich hatte nie das Gefühl, dass ich alleine bin.»
Sport für möglichst alle Die Eurogames existieren seit 1992 und entstanden aus einem Bedürfnis der schwul-lesbischen Community heraus, gemeinsam Sport treiben zu können. Lizenzgeberin ist die European Gay & Lesbian Sports Federation (EGLSF) mit Sitz in Amsterdam. Dem Verband sind heute über 120 LGBTIQ-Sportvereine in 30 Ländern angegliedert, die gemeinsam rund 20’000 Mitglieder zählen.
Im deutschsprachigen Raum wurden die Euro-Games zuletzt Mal 2000 in Zürich respektive 2004 in München durchgeführt. Die Spiele sind ein Breitensportanlass und offen für alle ungeachtet ihrer Leistungsklasse – egal ob Neuling oder Fortgeschrittene. Auch Cis-Heteros können sich für die Eurogames anmelden. Alle Teilnehmende müssen einem Code of Conduct zustimmen und ihn auch einhalten.
Curdin Orlik
Als erster aktiver Schweizer Spitzensportler outete sich Curdin Orlik 2020 als schwul (MANNSCHAFT berichtete). Bereuen tut er es nicht. «Es ist das Beste, was ich für mich machen konnte. Jetzt kann ich mich voll auf den Sport konzentrieren», sagt er. Schwule Vorbilder im Sport habe es nicht gegeben, als er jung war. «Im Schwingen sowieso nicht. Und in anderen Sportarten auch nicht wirklich. Das hätte ich mir schon gewünscht.» Für Leser*innen ausserhalb der Schweiz: Das Schwingen ist Ringen auf Sägemehl und gilt als Schweizer Nationalsport.
Für Christa waren diese Aspekte der Inklusion wichtig für ihr Engagement als Botschafterin für die Eurogames Bern 2023. «Ich war schon immer gegen Ausgrenzungen. Eine bunte Durchmischung ist mir wichtig», sagt sie. Im Rahmen des Leichtathletik-Wettkampfs bei den Eurogames will sie einen Einführungskurs im Diskuswurf und im Speerwerfen anbieten. «Damit auch diejenigen mitmachen können, die keine Erfahrung haben und es einmal ausprobieren möchten.»
Spiele für alle? «Möglichst alle», sagt Sebastian Süess, Leiter Eventbetrieb der Eurogames Bern 2023. «Aus infrastrukturellen und kapazitätstechnischen Gründen können wir nicht alle Sportarten auch für Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen anbieten.» Man sei jedoch bestrebt, individuelle Anfragen mit den betreffenden Sportarten abzuklären, um möglichst allen eine Teilnahme zu ermöglichen.
Hinter dem OK steckt ein eigens für die Eurogames gegründeter Verein mit einem neunköpfigen Vorstand, dem auch der Autor dieses Textes angehört.
27 Sportarten im Angebot Der Startschuss für die Eurogames Bern 2023 fiel am 30. Juli im Rahmen der Abschlusszeremonie der diesjährigen Eurogames in der niederländischen Stadt Nijmegen. Während vier Tagen traten dort rund 2000 Athlet*innen in 17 Sportarten an.
Marco Lehmann
Als erster schwuler Mannschaftssportler outete sich Profibasketballer Marco Lehmann 2021 in den Medien (MANNSCHAFT berichtete). Er würde es begrüssen, wenn auch heterosexuelle Teilnehmende an den Eurogames mitmachen würden. «Das wäre eine Durchmischung in die andere Richtung. Dadurch erleben sie, dass schwule Männer im Sport nichts Aussergewöhnliches sind.»
Für Bern 2023 werden bis zu 3’500 Teilnehmende in 27 Sportarten erwartet. Gemäss Sebastian haben sich im ersten Monat bereits über 120 Athlet*innen für diverse Sportarten angemeldet. Für einen Event, der erst in einem Jahr stattfinde, sei das eine sehr erfreuliche Zahl. «Es zeigt, wie sehr die Eurogames in der LGBTIQ-Community verankert sind, und dass man uns als Organisator*innen grosses Vertrauen entgegenbringt», sagt Sebastian. «Das freut und motiviert uns sehr.»
Man darf nicht vergessen, dass Teile der Community von einigen Disziplinen im Mainstream-Sport kategorisch ausgeschlossen werden, inter Menschen oder trans Frauen
Bezüglich gesellschaftlicher Akzeptanz hat sich in der dreissigjährigen Geschichte der Eurogames viel getan. Trotzdem gebe es nach wie vor ein Bedürfnis, innerhalb der Community einen Sportanlass zu haben. «Einerseits möchte man weiterhin in einem geschützten Rahmen mit Gleichgesinnten Sport treiben», sagt Sebastian. Andererseits möchte man LGBTIQ-Personen im Sport sichtbar machen, indem man etwa neue Wege aufzeige. Die Eurogames Bern 2023 bieten neben männlichen und weiblichen Kategorien eine weitere für nicht-binäre Teilnehmende an. Zudem dürfen Athlet*innen in der Geschlechterkategorie antreten, mit der sie sich identifizieren.
«Man darf nicht vergessen, dass Teile der Community von einigen Disziplinen im Mainstream-Sport kategorisch ausgeschlossen werden, zum Beispiel intergeschlechtliche Menschen oder trans Frauen», sagt Sebastian. «Auch ist es für viele schwule Männer in klassischen Mannschaftssportarten immer noch keine Selbstverständlichkeit, offen zu ihrem Partner und somit zu ihrer sexuellen Orientierung zu stehen.»
Von Badminton bis Roller Derby Im Angebot der Eurogames finden sich klassische Sportarten wie Schwimmen,Leichtathletik sowie Badminton oder Volleyball. Im Programm sind auch Community-nahe Sportarten vertreten wie zum Beispiel Flag Football.
Maja Neuenschwander
Darum engagiert sich die ehemalige Schweizer Rekordhalterin im Marathon für die Eurogames: «Der Sport bietet den idealen Rahmen, um neue Begegnungen zu ermöglichen und bestehende Freundschaften zu pflegen. Über den Sport finde ich unkompliziert Gemeinsamkeiten mit Menschen, mit denen ich im Alltag sonst keine Berührungspunkte hätte.»
Neue Sportarten: Fitness und Quidditch Sebastian freut sich, dass in Bern einige neue Sportarten Einzug ins offizielle Programm der Eurogames halten, darunter etwa Quidditch und Roller Derby. Beide Sportarten haben eine besondere Verbindung zur Community. Quidditch ist aus der Fantasywelt von Harry Potter inspiriert und erfreut sich besonders bei jüngeren und nicht-binären Spieler*innen grosser Beliebtheit. Nicht zuletzt auch, weil die Sportart dank der Gender Rule besonders inklusiv ist: Es dürfen jeweils nicht mehr als vier Personen mit der gleichen Geschlechtsidentität auf dem Spielfeld stehen.
Rollerderby ist tief im Queerfeminismus verwurzelt und ist ein Vollkontaktsport auf Rollschuhen. Dabei fahren zwei Teams auf einer ovalen Bahn – dem «Track». Die designierte Jammerin holt Punkte, indem sie die Spielerinnen des gegnerischen Teams überrundet. Diese versuchen mit allen Mitteln, sie daran zu hindern und ihre eigene Jammerin durchzubringen. Erlaubt ist Blocken und Schubsen mit vollem Körpereinsatz – mit Ausnahme von Kopf und Ellbogen.
Mit den neuen Sportarten Hyrox Challenge und Street Work-out wollen die Organisator*innen dem aktuellen Fitnesstrend Rechnung tragen. Bei Ersterem handelt es sich um einen Wettkampf auf Zeit, in dem Teilnehmende mehrere Übungen möglichst schnell und korrekt ausführen müssen, darunter 100 Ausfallschritte, ein 1000-Meter-Lauf und 30 Liegestütze. Bei Street Work-out geht es nicht um Zeit, sondern um Qualität und Quantität. Hier werden vier Kraftübungen mit möglichst vielen korrekten Wiederholungen absolviert.
Wettkämpfe, schnelle Zeiten und Medaillen: Zählen in Bern nur die Leistung und der Vergleich mit anderen? «Es stimmt schon: Obwohl es auch um den Spass geht, sind die Eurogames eher leistungsorientiert», sagt Sebastian. Mit einigen Massnahmen versuche das Organisationskomitee, die Eurogames Bern 2023 für ein breiteres Zielpublikum der LGBTIQ-Community schmackhaft zu machen. So etwa mit Wandern, das als «Timed Hiking» ausgeschrieben ist. «Dort geht es nicht darum, schneller als andere auf den Berg hinaufzukommen, sondern die Wanderung innerhalb einer vorgegebenen Zeit zu absolvieren.»
Zudem steht der PrideRun über 5 und 10 Kilometer neben leistungsorientierten auch nicht leistungsorientierten Läufer*innen offen. Für Letztere gibt es eine alphabetische Rangliste. «Damit wollen wir Personen zur Teilnahme ermutigen, die primär aus Spass mitmachen und nicht eine bestimmte Zeit erreichen möchten», sagt Süess. Zu der nicht leistungsorientierten Kategorie zählt auch der «Family Run». Hier haben Regenbogeneltern die Möglichkeit, mit ihren Kindern ab zehn Jahren zu laufen. Das sei eine Ausnahme, da die Eurogames prinzipiell nur erwachsenen Personen offenstehen.
Im Spätherbst werde man zusätzlich ein Aktivitätenprogramm vorstellen, in dem Bewegung und Sport in einem lockeren Rahmen im Zentrum stehe. «In der engeren Auswahl stehen zurzeit Inlineskaten, Yoga und ein Tanzworkshop», verrät Sebastian. «Wir hoffen, mit den Eurogames in Bern ein Programm zusammenzustellen, in dem für alle etwas dabei ist.»
Die Eurogames Bern 2023 finden vom 26. bis 29. Juli 2023 statt. Anmelden kann man sich auf www.eurogames2023.ch
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