Ein neuer intersektionaler Blick aufs Intimleben asiatischer Männer
Die Präsenz von asiatischen Männern in westlichen LGBTIQ-Medien ist sehr begrenzt, zwei US-Autoren haben das nun geändert
Fast parallel zueinander haben Bryan Washington und Anthony Veasna So Romane bzw. Geschichtssammlungen herausgebracht, in deren Zentrum schwule asiatische Männer stehen, die sich mit einer überwiegend weissen Umwelt arrangieren müssen.
Kürzlich besuchte ich den LGBTIQ-Buchladen Eisenherz in Berlin und plauderte dort lange mit dem Verkäufer-meines-Vertrauens über Neuerscheinungen. Er freute sich, dass auf dem aktuellen deutschsprachigen Buchmarkt so viele Titel mit queeren Inhalten erschienen seien, auch bei grossen Verlagen; selbst wenn das nach wie vor kein Vergleich zu dem ist, was im anglo-amerikanischen Bereich passiert. Und dann sagte er, fast nebenbei, dass er gerade einen wunderbaren neuen Roman lese, der von einer Beziehung handle, bei der nach vier Jahren die Luft raus sei und nur noch Routine übergeblieben ist. Aber das Paar versuche, diese Beziehung trotzdem zu retten – und er sei als Leser zum Schluss durchaus optimistisch, dass das gelingen könnte, obwohl der Autor absolut keine Romanze geschrieben habe, sondern sehr realistisch auf die Situation eingehe.
Kein Coming-out-Buch Das hatte sofort mein Interesse geweckt, weil ich manchmal das Gefühl habe, dass es neben den unendlich vielen Coming-out-Büchern und Liebe-mit-Hindernissen-Romanen viel zu wenig Bücher über den Alltag von schwulen Paaren gibt – der eben nicht immer rosarot ist. Und mit dem sich jeder auf eigene Weise arrangieren muss, wenn er nicht ewig Single sein will oder in einer Endlosschleife von Suchen-Finden-Verlassen-Neusuchen landen will.
Der Verkäufer im Eisenherz sagte dann noch, dass an Washingtons Roman «Memorial» – auf Deutsch erschienen als «Dinge, an die wir nicht glauben» – das Paar mit den Beziehungsherausforderungen eine ungewöhnliche Konstellation sei: ein Afro-Amerikaner und ein Japaner. «Ich kenne keinen anderen queeren Roman mit solch einem Liebespaar, und das macht das Buch doppelt spannend», sagte Roland an der Eisenherz-Kasse. Und hatte mich damit vollständig überzeugt, dass ich das Buch lesen wollte, nach einer fast ausschliesslichen Diät von Young-Adult-Büchern in den Wochen davor. (MANNSCHAFT berichtete über das letzte Buch von Simon James Green, in dem die queeren Protagonist*innen elfjährig sind und ihre Sexualität gerade entdecken.)
Wechselnde Perspektiven Was Bryan Washington aus vielen aktuellen YA Novels als Technik übernommen hat, ist das Erzählen aus wechselnden Perspektiven. Aber während das anderswo schon zur Banalität verkommen ist und man sich als Leser*in beim ständigen Hin und Her kaum mehr merken, wer gerade erzählt, benutzt Washington diese Strukturprinzip übersichtlich. Sein Roman aus dem Jahr 2021 besteht aus drei Teilen: im ersten schildert Benson seine Sicht der Dinge und sein Leben in Houston im US-Bundesstaat Texas. Benson ist in einer «schwarzen» Community aufgewachsen, hat mit seinen Eltern keine besonders glücklichen Coming-out-Erfahrungen gemacht, hat es (genau wie sein gut ausgebildeter Vater) schwer, beruflich Fuss zu fassen. Er arbeitet als Erzieher und wird von den Kindern geliebt, weil er instinktiv versteht, richtig mit ihnen umzugehen.
Sein Liebesleben wiederum bestand vorm Treffen mit Mike daraus, dass er innerhalb seiner Community rumgevögelt hat und sich dann recht schnell mit HIV infizierte. Das zerstört sein ohnehin angeschlagenes Selbstwertgefühl, und er zieht sich völlig zurück von Dating, Flirts und Sex. Bis er bei einer Party Mike kennenlernt, dessen Eltern aus Japan stammen und der in Houston aufgewachsen ist. Mike versucht sehr aggressiv mit Ben in Kontakt zu kommen. Er ist in vielem das Gegenteil von Benson: er schreibt auf Dating-Seiten viele Männer an. Oft bekommt er Abfuhren, weil andere seinen Schwanz zu klein finden oder seinen Körper zu fett. Oder weil sie keine derart dominanten Asiaten zum One-Night-Stand kennenlernen wollen. (MANNSCHAFT berichtete über die Ausgrenzung von asiatisch aussehenden Männern innerhalb der LGBTIQ-Community.)
PrEP und HIV in der Beziehung Beson lässt sich vorsichtig auf ein Treffen mit Mike ein, der PrEP nimmt und mit HIV kein Problem zu haben scheint. Ein Problem wird dann jedoch der Kultur-Clash des Zusammenlebens. Beide interagieren völlig anders mit ihrer Umgebung – in diesem Fall eine Wohngegend, in der ehemals Schwarze lebten, jetzt Hipster, junge weisse und wohlhabende Student*innen, viele Latinos, die nach den Schwarzen eingezogen waren. Beide Männer haben andere Essensgewohnheiten. Und beide haben komplett verschiedene Familiengeschichten.
Das Buch beginnt damit, dass Mikes Mutter Mitsuko aus Japan zu Besuch kommt, um ihren Sohn zu sehen
Das Buch beginnt damit, dass Mikes Mutter Mitsuko aus Japan zu Besuch nach Houston zurückkommt, um ihren Sohn zu sehen. Sie will mehrere Wochen bei Mike und Beson wohnen. Gleichzeitig liegt Mikes Vater, den er seit über zehn Jahren nicht gesehen und gesprochen hat, in Japan im Sterben. Mike beschliesst, nach Osaka zu fliegen und ihn zu suchen. Während Benson sich um seine «Schwiegermutter» kümmern muss, die er bis dahin nicht kannte. Und die in allem das Gegenteil seiner eigenen Mutter ist.
Daraus ergeben sich teils komische, oft aber vor allem Anrührende Episoden, während sich die beiden Figuren näherkommen – über ihre jeweilige Beziehung zu Mike, der abwesend ist. Und über den sie ihr Verhältnis zueinander dennoch definieren.
Die Welt in Osaka Der zweite Teil des Buchs spielt in Osaka, wo Mike seinen Vater findet und erfährt, dass dieser eine Kneipe betreibt. Der in den USA aufgewachsene Mike lernt hier hautnah das Leben in Japan kennen und muss sich als schwuler Mann mit den anderen Umgangsformen arrangieren. Zudem will er sich mit seinem Vater aussöhnen.
Sowohl Benson als auch Mike lernen während der Abwesenheit des anderen neue Männer kennen, und es entwickelt sich jeweils die Möglichkeit einer neuen Beziehung: für Mike mit einem anderen Japaner, für Benson mit einem Mann in Houston, dessen kleiner Bruder in seinem Kindergarten ist.
In Teil 3 des Romans erfahren wir, wiederum aus der Perspektive von Beson, wie Mike aus Japan zurückkehrt. Und wie die beiden Männer abwägen, wie es nun mit ihnen weitergehen könnte. Und ob sie sich die Mühe machen wollen, ihre Beziehung zu «retten».
Als Autor findet Bryan Washington für die beiden Männer einen jeweils eigenen und überzeugenden Ton, er erschafft auch Welten in Houston und Osaka, die als Kontrast wunderbar funktionieren und in denen man sich als Leser*in gern bewegt. Und: Er lässt beide Männer ungemein glaubhaft wirken. Denn in ihrem jeweiligen inneren Monolog (bzw. Dialog mit dem/der Leser*in) sprechen die ihre tiefsten Ängste an und erzählen von den Abweisungen, die sie im Beruf und beim Dating erlebt haben.
Schwanzgrösse und Körperideale Denn beide Männer sind eher übergewichtig und entsprechen nicht dem Klischee des durchtrainierten Sportstudioschwulen. Beide wurden von Männern aus dem Bett geschmissen, weil diese fanden, ihr Schwanz sei nicht gross genug, wobei speziell Benson mit rassistischen Erwartungen kämpfen muss, die viele in Bezug auf «BBC» haben (Big Black Cock), wenn sie sich mit einem Schwarzen verabreden. (MANNSCHAFT berichtete über die Ausgrenzung von schwarzen Darstellern in der schwulen Pornoindustrie.) Beide Männer sehnen sich nach einer Form von Intimität, die nicht nur aus Rein-Raus-Sex besteht. Und finden diese miteinander.
Der Fokus auf Körperformen, die nicht dem gängigen Hollywood- oder Pornoideal entsprechen, macht das Buch erfrischend
Der Fokus auf Körperformen, die nicht dem gängigen Hollywood- oder Pornoideal entsprechen (oder dem, was man in schwulen Hochglanzmagazinen lange zu sehen bekam), macht das Buch erfrischend. Ohne dass das dadurch zu einem «Problembuch» würde. Bryan Washington zeichnet einfach realistische Menschen, und er zeigt eine Paarkonstellation, die scheinbar so ungewöhnlich ist, so ungewöhnlich, dass selbst Mike und Benson darüber im Buch immer wieder Witze machen.
Washington ist selbst Afro-Amerikaner, der in Houston lebt. Er ist vielfach mit Literaturpreisen ausgezeichnet worden und schreibt u.a. für die New York Times, den New Yorker und die BBC, Vulture oder die Paris Revue.
Kambodschaner in Kalifornien Anthony Veasna So wiederum wuchs in Kalifornien auf und stammt aus einer Familie, die aus Kambodscha in die USA geflüchtet ist. Seine Kurzgeschichten beschreiben die entsprechende Community an der Westküste und stellen die Frage nach Identität in einem «fremden» neuen Land. Wie findet sich die zweite und dritte Generation zurecht in der «neuen» Umgebung, wie sieht der Austausch mit dem weissen Amerika aus, ist es etwas Positives oder Negatives sich «anzupassen» – und wie interagiert eigentlich diese spezielle asiatische Community mit anderen asiatischen Communities?
Der 1992 geborene Anthony Veasna So studierte an der Stanford University, schrieb ebenfalls für den New Yorker und die Paris Revue, er unterrichtete an verschiedenen Universitäten und arbeitete am Center for Empowering Refugees and Immigrants in Oakland. 2020 starb er an einer Überdosis Drogen, ein Jahr später erschienen seine gesammelten Kurzgeschichten unter dem Titel «Afterparties». Auch dieses Buch legte mir Roland vom Eisenherz-Buchladen ans Herz.
Ich trage in meinem Körper das Erbe von Krieg, Genozid und Kolonialismus
Aus LGBTIQ-Perspektive ist besonders die Geschichte «Human Development» interessant, in der der Ich-Erzähler Anthony sich als «gay, Cambodian, and not even 26» beschreibt: «carrying in my body the aftermath of war, genocide, colonialism.»
Anthony unterrichtet weisse Kindern von Internetfirmenmitarbeiter*innen in San Francisco, er soll ihnen beibringen, was es heisst, «Mensch» zu sein: «How absurd, I admitted. How fucking hilarious. I was actually excited.»
Druck sich beweisen zu müssen In dieser Geschichte geht es auch um sexuelle Identität. Anthony fragt sich, ob er nach einem Partner innerhalb seiner kambodschanischen Community suchen und sich auf die gemeinsame kulturelle Erfahrung konzentrieren sollte – oder ob er nicht lieber mit einem weissen Sportler aus der Universität ins Bett will, der unbelastet von diesem kulturellen Erbe ist und einfach nur «er selbst» sein kann: «plain and perfect», wie So schreibt.
Er beginnt eine Beziehung mit Ben, einem erfolgreichen Geschäftsmann, dessen Familie ebenfalls aus Kambodscha stammt. Ben arbeitet an der Entwicklung einer App und hofft auf den globalen Durchbruch, mit dem er beweisen kann, dass auch Männer aus Südostasien gross im Silicon Valley herauskommen können, das von weissen Männern dominiert wird. Im Grund hat Ben nichts gemein mit Anthony, ausser dass beide Familien aus Kambodscha haben. Ist das genug? Reicht das für eine Beziehung oder für erfüllenden Sex?
Und wie ist dieser Sex anders als der mit Jake, der sich solche Herkunftsfragen nicht stellt, der sich gegenüber niemandem beweisen muss? Der nicht diesem ständigen Erfolgsdruck ausgesetzt ist?
Leichtigkeit und Selbstironie Das sind komplizierte Fragen, die Anthony Veasna So mit grösstmöglicher Leichtigkeit behandelt. Da es eine Kurzgeschichte ist, tut er das nicht so ausführlich wie Bryan Washington in seinem Roman. Aber dennoch scheint die queere Welt, die So in «Human Development» skizziert, völlig überzeugend. Er schafft es, spannende Charaktere zu zeichnen, die Fragen diskutieren, die Grundsatzfragen sind, also auch andere Menschen betreffen, in diesem Fall besonders queere Menschen, die sich möglicherweise ihrerseits zwischen verschiedenen Communities bewegen und nicht nur «queer» sind, sondern auch noch viele andere Dinge. Das macht beide neuen Bücher wichtig. Da sie mit viel Selbstironie geschrieben sind, macht es beide Bücher auch sehr unterhaltsam zu lesen. Und vielfach tief berührend.
Mit anderen Worten: Danke, Roland, für diese Doppelempfehlung!
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