«Die Community hat gelernt, sich ihre Schlupflöcher zu suchen»

Ein Tagebuch voller nackter Haut

Alle Bilder: Depuis ce Matin
Alle Bilder: Depuis ce Matin

Mit seinen Arbeiten dokumentiert Sasha, wie verschieden homosexuelle Männer auf der ganzen Welt lachen, leben und lieben.

Alles begann 2017 in Tel Aviv. Sasha war zwei Jahre zuvor in die israelische Stadt am Mittelmeer gezogen. Voller Wünsche und Hoffnungen.

Getrieben von seiner Neugier beschloss der gelernte Journalist und Grafikdesigner, neu gewonnene soziale Kontakte in intimen Momentaufnahmen festzuhalten. Erst ein, dann zwei, dann drei Fotos, bis irgendwann ein ernstzunehmendes Projekt aus seiner Idee erwachsen war.

«Ich wollte den Alltag schwuler Menschen in dieser offenen und so lebendigen Stadt zeigen und eine Art Tagebuch kreieren. Eines Tages wachte ich auf und merkte, dass mich interessierte, wie andere Schwule ihren Morgen begehen. Also fragte ich sie danach und lichtete sie in diesen frühen Stunden ab. So führte eins zum anderen», erinnert sich der 39-Jährige.

Die fortlaufende Reihe «Depuis ce Matin» (zu Deutsch: Von heute Morgen) zählt mittlerweile über 700 Beiträge und lässt sich auf dem gleichnamigen Instagram-Account bestaunen.

«Ich mag es, wenn Körper ein bisschen anders sind.»

Stiller Zeuge Er selbst ist auf seinen Arbeiten nie zu sehen. Sasha findet, das ruiniere die Illusion. Stattdessen fungiert er lieber als unsichtbarer Beobachter und entlockt seinen Modellen gekonnt ihre verletzlichsten Seiten. Fern jedweder toxischen Maskulinität oder oberflächlichen Erotik. «Ich interessiere mich für soziale Themen wie Körper, Toleranz und den Versuch, schwule Stimmen lauter zu machen», sagt er. Wobei hundertprozentige Toleranz nicht existiere.

«Es wird immer jemanden geben, der dir schreibt, dass du mehr mit kurvigen Models arbeiten solltest oder jemand, der das genaue Gegenteil fordert. Allerdings widme ich mein Projekt Menschen. Realen Menschen, die vielleicht nur eine Tür weiter leben. Es geht weniger um Kunst oder Fotografie, sondern eher um die Männer, die ich kennenlernen und die Orte, die ich bereisen durfte.»

Herumgekommen ist der gebürtige Russe in der Tat. Metropolen wie Berlin, Barcelona, Mexiko-Stadt oder London erkundete er genauso wie die diversen Ecken Moskaus – Viertel, die er aktuell sein Zuhause nennt. Da er in Russland auch als Fotograf tätig ist, bittet er uns, weder seinen Nachnamen noch sein Gesicht zu veröffentlichen.

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In der Höhle des Löwen Wie verträgt sich nun aber ein Konzept, das (halb-)nackte Homosexuelle in den Fokus stellt, mit einem vermeintlich konservativen Regime, das wir als Westeuropäer in Russland vermuten? «Es gibt massenhaft Themen, über die wir reden könnten, bevor wir zu dieser Frage kommen», erwidert Sasha, der als Jude in der ehemaligen UdSSR geboren wurde und schon früh Diskriminierung erfahren hat.

«Russen gelten als extrem homophob. Das stimmt aber nur bedingt. Seit den Nuller­jahren kümmert sich beispielsweise niemand mehr um die offen ausgelebte Homosexualität von Sänger*innen oder Schauspieler*innen. Auch junge Leute verstecken sich weniger, wenngleich ich mit Schwulen gesprochen habe, die keinesfalls geoutet werden möchten. Aus Angst, ihr ruhiges, bequemes Leben könne in Gefahr geraten.»

Natürlich gebe es Gesetze, die es LGBTIQ-Personen schwer machten, räumt Sasha ein. Nur seien es am Ende eben weniger Erlasse und Regeln, sondern vielmehr die Einstellungen in den Köpfen der Leute, die darüber entschieden, ob Akzeptanz herrsche oder nicht. «Die Community hat gelernt, teilweise mit den Einschränkungen zu leben und sich ihre Schlupflöcher zu suchen.»

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Kontrastprogramm «Ich mag es, wenn Körper ein bisschen anders sind. Schönheit bedeutet nicht für alle das Gleiche. Das Betrachten des männlichen Körpers ist für mich wie das Fertigen einer Skulptur oder eines Gemäldes», sagt Sasha. Seinen Bildern sieht man diese Passion an. Sie strotzen vor zurückhaltender Ästhetik, zeigen nie zu viel, aber immer genug, um das Wesen, den Charakter der dargestellten Personen hervorblitzen zu lassen. Ein effektvoller Umgang mit Nacktheit, der im Kontrast zu der allgegenwärtigen Verfügbarkeit von Pornografie steht, bei der jedes einzelne Detail der menschlichen Anatomie auf dem Silbertablett präsentiert wird.

Sashas Aufnahmen lassen sich kaum mit einem einzigen Blick erfassen. Der Betrachter wird bewusst dazu aufgefordert, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und sich Geschichten rund um das Gesehene zu erdenken. «Ich möchte allen Arten von Menschen eine Plattform bieten. Mit unterschiedlichen Hauttypen, mit langen oder kurzen Haaren, femininer, maskuliner, dünn oder dick, klein oder gross. Jede*r hat das Recht, sich selbst lieben zu dürfen, und ich will helfen, das möglich zu machen.»

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Wo sind die Frauen? Was «Depuis ce Matin» fehlt, sind Frauen. Die Reihe besteht einzig aus Porträts männlicher Models. Zwar habe Sasha andere Projekte, bei denen er auch Frauen ablichte, doch tue er dies nie nackt. «Weibliche Aktfotografie ist nicht mein Steckenpferd», erklärt er. Und warum etwas tun, wozu man sich nicht berufen fühlt?

Vermutlich würde das Sashas Bildern jene Magie rauben, die dann entsteht, wenn er und seine Muse für einen flüchtigen Augenblick in kompletter Harmonie verschmelzen. Ein Zauber, der in jeder einzelnen Aufnahme von «Depuis ce Matin» mitschwingt und weit über jedwede Geschlechtergrenzen und sexuelle Präferenzen hinaus zu begeistern weiss.

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