Das fehlende Puzzleteil – Wie Epithesen trans Männern helfen

Dank Sofia Koskeridou, einer deutschen Epithetikerin mit ausgezeichnetem Ruf

Sofia Koskeridou modelliert aus Wachs einen Penis (Foto: Markus Scholz/dpa)
Sofia Koskeridou modelliert aus Wachs einen Penis (Foto: Markus Scholz/dpa)

Was bedeutet das eigentlich, wenn die Transition vorüber ist? Weg und Ziel sind von trans Mann zu trans Mann recht unterschiedlich. Einige machen eine Aufbau-Operation, andere leben mit Epithesen. Dazwischen liegen Welten.

Früher spielte Fabian im Verein Fussball, bei den Frauen, auch noch nach Beginn seiner Testosteronbehandlung Ende 2015. Für den Verein sei das okay gewesen, aber irgendwann beschloss er, damit aufzuhören – aus Respekt vor den rechtlichen Aspekten und einer möglichen Wettbewerbsverzerrung. Später spielte er Badminton. Geoutet war der trans Mann in dem Verein nicht. «Das hat auch funktioniert; nur beim Umkleiden musste ich aufpassen», erzählte Fabian gegenüber MANNSCHAFT anlässlich der Sport Pride im Frühsommer. Auch Pinkeln am Pissoir ist für trans Männer eine Herausforderung.

trans Mann
trans Mann

Der Sonderschulpädagoge arbeitet im niedersächsischen Stade. Dort an der Förderschule müsste er eigentlich alles unterrichten, auch Sport, aber davon wurde er zunächst befreit. Schwimmstunden muss er bis heute nicht geben.

Fabian beantragte bei seiner Krankenkasse die Operation für den Peniod-Aufbau, hier wird die Vagina verschlossen und ein sogenannter Klitorispenoid aufgebaut. Dafür bekam er zwar grünes Licht, doch von dem Erfolg des Eingriffs ist er nicht überzeugt. «Wenn es richtig schlecht läuft, braucht man Dutzende Korrektur-Operationen, ist aber am Ende trotzdem verstümmelt.» Fabian kennt trans Männer, bei denen diese Operationen schiefgegangen sind und die nun nicht mal ohne Komplikationen aufs Klo gehen können.

Auch hier gilt offenbar: Gutes Personal ist schwer zu finden. In Deutschland sitzen die Spezialist*innen eher in Süddeutschland, sagt Fabian. In Österreich, so schreibt der Verein TransX auf seiner Homepage, sei die Situation für Operationen «sehr schlecht». Immer wieder versuchten einzelne Ärzt*innen sich die nötigen Techniken anzueignen, sammelten «mit zweifelhaftem Erfolg» Erfahrungen an einigen Patient*innen und gäben wieder auf. Aktuell sei darum in Österreich gar kein*e Operateur*in zu empfehlen.

Nun ist aber der Weg über den OP-Tisch nicht alternativlos. Viele trans Männer hören früher oder später von Sofia Koskeridou, einer – wenn nicht der – Epithetikerin in Deutschland oder gar im deutschsprachigen Raum. In der Schweiz biete niemand Epithesen an, die mit denen von Koskeridou vergleichbar sind, daher könne man auch keine anderen Empfehlungen abgeben, teilte uns Transgender Network Switzerland (TGNS) mit.

Koskeridou arbeitete ursprünglich als Zahntechnikerin, doch ein trauriger Anlass brachte sie zur Epithetik: Ihre Schwester litt an Krebs, ihre Brust musste amputiert werden. «Ich kann ohne Haare und ohne Wimpern leben», sagte sie nach der Chemotherapie, «aber nicht ohne Brüste.» Dass ihr dieses Körperteil fehlte, hat sie schwer getroffen.

Sie entschied sich damals für den Aufbau einer Brust im Rahmen einer plastisch-rekonstruktiven Operation, doch das Ergebnis war ernüchternd. In einer Mischung aus Spass und Ernst sagte sie zu ihrer Schwester: «Sofia, kannst du mir nicht eine Brust machen?» Das ist 15 Jahre her. Den anerkannten Beruf der Epitheriker*innen gab es damals noch nicht. Trotzdem begann Koskeridou eine Ausbildung. Doch als ihre Schwester verstarb, hat sie die Epithetik erstmal links liegen lassen. Bis sich der Bundesverband der Epithetiker gründete. Koskeridou legt ihre Prüfung ab. «Ich wollte anderen Menschen helfen», erklärt sie.

Epithesen gibt es schon sehr lange. In Ägypten soll man schon zur Zeit der Pharaonen künstliche Ohren aus Wachs hergestellt haben, im alten China benutzte man neben Wachs auch Ton oder Holz. Erste Bilder von Epithesen stammen aus dem 16. Jahrhundert und zeigen das Portrait des dänischen Astronomen Tycho Brahe, der bei einem Duell einen Teil des Nasenrückens verlor und sich mit einer kleinen metallenen Nasenplatte behalf. Anfang des 16. Jahrhunderts wurden dann die ersten künstlichen Nasen hergestellt, die mit Fäden um den Kopf gebunden wurden. Die moderne Epithetik beginnt Ende des 18. Jahrhunderts: Damals entwickelte der Zahnarzt Nicolas Dubois de Chémant aus Paris – neben Kronen und Prothesen – auch Kinn- und Nasen-Epithesen, aus Porzellan.

«Epithetiker arbeiten meist im Gesichtsbereich», erklärt Koskeridou. «Aber ich wollte etwas Spezielles machen.» Durch das Beispiel ihrer Schwester weiss sie: Für die Psyche ist das Fehlen oder Abhandenkommen eines Körperteils schwer zu verkraften. Der Grund kann ein Tumor sein, ein Unfall oder auch genetische Defekte. Aber auch für trans und inter Menschen, denen der für sie richtige Körperteil fehlt.

«Ich höre viele Geschichten, und meine Augen sehen einiges», sagt die Epithetikerin. „Es gibt Menschen, die sich ritzen, weil sie sich in ihrem Körper nicht wohl fühlen – das ist ein Problem. Und so nahm meine Geschichten dann ihren Weg.»

Im Jahr 2013 erreichte sie die Mail eines trans Mannes, der sie fragte, ob sie bereit seit „für ein Abenteuer». Der Absender wollte wissen, ob sie ihm eine Penis-Epithese fertigen könnte. Seitdem stellt sie Sonderepithesen her. Genitalien für biologische Männer, die ein Peniskarzinom hatten – bei sehr ausgedehnten Tumoren muss der Penis amputiert werden –, für Kinder und inter Menschen, aber eben auch für trans Personen. (Auf ihrer Seite epitrans.de finden sich zahlreiche Bilder ihrer Epithesen.) Auch für Frauen nach einer Brustamputation und für trans Frauen, denen sie Brüste und Mamillen anfertigt.

Auch Fabian ging schliesslich zu Sofia Koskeridou und wollte sich aus der Nähe überzeugen, wie das mit den Epithesen funktioniert. «Sie hat mir alles Mögliche gezeigt. An die 25 Penisse aus Silikon breitete sie auf dem Couchtisch aus. Das war schon mal ein Bild für die Götter.»

Koskeridou schickte ihn mit einer Epithese in die Umkleidekabine, damit er sie „anprobieren» könne. «Das war schon ein bisschen schambesetzt», erinnert sich Fabian, aber als er es probierte, war er sprachlos. «Mir stiegen fast die Tränen in den Augen. Das war so täuschend echt, auch wenn natürlich der Hautton nicht ganz passte weil das eben nur ein Modell war und nicht an seinen Hautton angepasst war. Es war wirklich krass. Ich dachte: Ja, das ist das fehlende Stück, das fehlende Puzzleteil. Das hatte schon etwas von Ankommen.»

Ich ziehe es auf jeden Fall den grossen, in Bezug auf das Ergebnis unklaren Operationen vor.

In diesem Moment war er schon ziemlich sicher, dass er den Weg mit Sofia gehen würde und nicht in mehreren Operationen an sich herumschneiden lassen wollte. «Ich ziehe es auf jeden Fall den grossen, in Bezug auf das Ergebnis unklaren Operationen vor», sagt Fabian. Nun wartet er noch auf das Okay der Krankenkasse. Dort gelten Penis-Epithesen seit 2018 offiziell als Hilfsmittel und werden bezahlt (die Schweizer Krankenversicherungen übernehmen die Kosten nicht). Im Gegensatz zu früher hat man heute in der Regel binnen zwei Wochen seine Genehmigung, sagt Sofia.

Die Penis-Hoden-Epithesen hat sie selber entwickelt, und sie stellt sie auch eigenständig her, in ihrem Labor im schleswig-holsteinischen Norderstedt. Mitarbeiter*innen hat sie nicht. «Es ist ja auch ein ganz sensibles Thema», sagt sie.

Wer zu ihr kommt, muss buchstäblich die Hosen runterlassen. Denn jede Epithese wird anatomisch an den Körper angepasst, auch der Hautton muss richtig getroffen werden. Abgesehen davon, dass Grösse und Länge des künstlichen Penis zur Anatomie des Körpers passen muss, kann man sich aussuchen, ob er beschnitten sein soll oder nicht; auch Wünsche in Bezug auf Haaransatz und Aderung werden erfüllt. Ebenso redet der Kunde mit, wie gerade, gekrümmt oder steif die Epithese werden soll.

Mindestens zwei, drei Mal muss man in Norderstedt vorstellig werden, manchmal sind auch mehr Termine nötig. Vor der Corona-Krise war Koskeridou auch oft in der Schweiz, zur Beratung oder zur Nachsorge oder hat dort auf der Transtagung Vorträge gehalten. Wenn die Pandemie vorbei ist, wird man sie auch wieder in der Schweiz und Österreich treffen können.

Ihre trans Kunden erhalten in der Regel zwei Epithesen, eine zum Urinieren, eine für den Geschlechsverkehr. Mit medizinischem Haftkleber wird die Epithese befestigt. Nicht die Sorte, die Chirurgen benutzen, um kleinere Schnittwunden zu kleben. «Sonst kriegen wir die Epithese nämlich nicht wieder von der Haut ab», erklärt Sofia. Wenn sie fertig ist, zeigt sie ihren Kunden die Klebetechnik. Auch das Pinkeln muss in ihrem Institut für Epithetik geübt werden, bevor man seinen Penis mit nach Hause nehmen darf.

Die Kosten belaufen sich auf rund 4000 Euro pro Epithese (ohne Mehrwertsteuer), Termine wie etwa zur Anprobe inbegriffen. Den Preis bestimmen die Verträge zwischen den Krankenkassen und dem Bundesverband der Epithetiker und ist ein Bruchteil dessen, was eine Aufbau-Operation kostet. Wie bei allen Epithesen hat man etwa alle zwei Jahre Anspruch auf eine neue.

Trans Männer, die bei Koskeridou waren, schwärmen von ihrer einfühlsamen, offenen Art. Nicht nur Fabian fühlte sich bei ihr gut aufgehoben. Auch Luca, der den YouTube-Channel Trans*Planet betreibt und die erste Epithese bereits erhalten hat, beschreibt sie als «super lieb». Auch wenn sie nicht nur gute Nachrichten für ihn hatte: Anatomiebedingt konnten seiner Epithese keine Hoden hinzugefügt werden. Aber dann sagte er sich: Wer holt schon am Pissoir seine Eier raus?

Wie lange eine Epithese hält, hängt von der Pflege und der Harnsäure ab. Wie jede Epithese muss sie mindestens einmal pro Tag abgenommen werden. Es gebe aber auch Männer, die aufgrund von Hauterkrankungen oder mit einem anderen Beeinträchtigung gar nicht kleben dürfen, sagt Koskeridou.

«Dann wird die Epithese eben anders an den Körper und die individuelle Anatomie angepasst. Im Gegensatz zum Packer, den man im Internet bestellt, halten die dann gut mit der Unterhose.»

Viele können normal Rad fahren, andere mussten erst den Sattel wechseln.

Vielleicht macht sie beim Sex nicht jede Stellung mit, das müsse man eben ausprobieren. Das gilt auch für die Frage, ob man aufs Fahrrad steigen kann. «Ich kriege unterschiedliches Feedback von meinen Männern: Viele können normal Rad fahren, andere mussten erst den Sattel wechseln.»

Eins ist klar, sagt Sofia Koskeridou: Epithesen werden auch in 100 Jahren nicht das biologische Glied ersetzen. „Aber man kann viel machen und seine Lebensqualität verbessern.“ Voraussetzung: Man ist bereit, Kompromisse einzugehen. «Man sollte nicht darüber nachdenken, was man alles nicht machen kann. Sondern: Was kann ich alles machen!»

Penisprothese Mit dem Schwellkörperimplantat werden erektile Dysfunktionen auf chirurgischem Weg behandelt und die Versteifung des Penis ermöglicht.

Minipenis Durch die Einnahme von Testosteron wächst die Klitoris zu einem „Mini-Penis“. Wie trans Mann Linus Giese in seinem Blog schreibt, um drei bis sieben Zentimeter. Die Klitoris wird ebenso steif wie beim cis Mann, wenn er erregt ist. Der Orgasmus wird auch weiter über die Klitoris ausgelöst.

Penoidaufbau
 Operativ wird Haut und Gewebe von anderen Körperstellen (i.d. R. vom Unterarm) entnommen, um das neue Organ entstehen zu lassen. Diese Lösung bietet die grösste Annäherung an das Idealbild eines männlichen Genitals. Die medizinischen und technischen Möglichkeiten sind aber nicht so weit fortgeschritten, dass ein Penis mit all seinen natürlichen Funktionen nachgebildet werden kann.

Packer Meist aus Silikon hergestellt, dienen sie dazu, den Anschein zu erwecken, etwas in der Hose zu haben. Packer werden meist mit einem Harness in der Hose gehalten oder in einer eingenähten Tasche in den Boxershorts.

Anastasia Biefang fragt in ihrer MANNSCHAFT+-Kolumne: Wann bin ich fertig als Frau? Ist die letzte geschlechtsangleichende Operation ein Massstab für das Ende einer Transition?

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