«Muss ich mich outen, um zufrieden zu leben?»
Es soll keinen Druck geben, die eigene Sexualität öffentlich zu machen, meint unser Kommentator
Peter Fässlacher ist Moderator und Sendungsverantwortlicher bei ORF III und Stimme des Podcasts «Reden ist Gold» über die Liebe und das Leben mit Menschen der LGBTIQ-Community. In seinem Kommentar* geht es um den Wert des Coming-outs. Der Text stammt aus der Sommer-Ausgabe der MANNSCHAFT.
Es gibt eine Frage, die sich jeder schwule Mann schon einmal gestellt hat. Zumindest für einen kurzen Moment. Sie lautet: «Muss ich mich eigentlich outen, um ein zufriedenes Leben zu führen?»
«Ich hatte nie ein Coming-out – ich habe ein Bühnenprogramm!»
Viele würden darauf intuitiv mit «Ja» antworten: Weil man erst danach wirklich frei sein könne. Weil man sich sonst ein Leben lang verstecken müsse. Aber stimmt das wirklich? Ist ein Coming-out notwendig, um glücklich zu sein?
Der persönliche Reifegrad schwuler Männer wird mittlerweile daran gemessen, wie entspannt sie in der Öffentlichkeit mit ihrem Schwulsein umgehen. Dabei gilt: Wer sich zeigt, hat das Ziel erreicht. Wer sich nicht zeigt, ist bestenfalls noch auf dem Weg.
Heute lautet der Refrain des «richtigen» schwulen Lebens: «Out and Proud». Sichtbarkeit hat längst einen höheren Wert als Unsichtbarkeit. Aber warum eigentlich?
Nur weil die Gesellschaft liberaler wird, bedeutet es nicht zwangsläufig, dass der persönliche Schritt, sich zu zeigen, dadurch leichter fällt. Ängste sind irrational und richten sich in ihrer Intensität nicht unbedingt nach dem steigenden Toleranzgrad einer Gesellschaft. Viele Jahrzehnte wurde – und wird noch immer – dafür gekämpft, dass Homo- und Heterosexuelle als gleichwertig angesehen werden. Vielleicht sollte man auch einmal dafür kämpfen, dass die persönliche Entscheidung für oder gegen ein Coming-out als ebenso gleichwertig angesehen wird?
Coming-out und die Dimension der Notwendigkeit Man könnte versuchen, die Frage «Muss ich mich eigentlich outen?» neu zu formulieren. Sie könnte lauten: «Wer bin ich in meiner sexuellen Identität als schwuler Mann? Bin ich jemand, der sich öffentlich zeigt? Oder bin ich jemand, der es lieber für sich behält?» So gestellt, bekommt die Frage nach der Notwendigkeit des Coming-out eine ganz andere Dimension: Es geht plötzlich um so viel mehr als nur um ein Ja oder ein Nein.
Belgischer Pop-Star Angèle outet sich als lesbisch
Es geht darum, wer ich bin und wie ich mein Leben führen möchte. Es geht darum, zu erforschen, welche Bedürfnisse ich habe und wie ich mich und mein Selbstverständnis definiere. Und egal,ob ich mich dann für oder gegen ein Coming-out entscheide: So, wie ich mich entscheide, ist es für mich richtig. Die Entscheidung für ein Coming-out ist gleich viel wert wie die Entscheidung gegen ein Coming-out.
Wer sich dagegen entscheidet, muss etwas genauer hinsehen und sich fragen: Wer hat diese Entscheidung eigentlich getroffen? War ich es selbst? Oder war es die Angst, die sich als freie Entscheidung verkleidet hat?
Das Ziel der LGBTIQ-Aktivist*innen ist eine gleichberechtigte Gesellschaft – Voraussetzung dafür ist die Sichtbarkeit. Das Ziel jedes einzelnen sollte es jedoch sein, die individuell stimmigste Form zu finden, sein eigenes Leben zu gestalten. Und die Voraussetzung dafür ist die Möglichkeit zur freien Wahl: Möchte ich mich zeigen oder möchte ich es nicht?
Kein Druck entstehen, sich öffentlich bekennen zu müssen
Die Entwicklung hin zu einer liberaleren Gesellschaft darf nicht als Befehl an die persönliche Entwicklung verstanden werden. Sondern als Angebot. Es soll kein Druck entstehen, sich öffentlich bekennen zu müssen. Eine liberale Gesellschaft soll die freie Wahl ermöglichen und einem die Angst nehmen, etwas befürchten zu müssen, wenn man sich für ein Coming-out entscheidet.
Neue Studie: LGBTIQ-Sichtbarkeit erhöht Akzeptanz
«Don’t hide your Pride» – so lautete das Motto des diesjährigen CSD in Berlin (der einen lesbenfeindlichen Angriff nach sich zog – MANNSCHAFT berichtete). Für das Ziel einer liberaleren Gesellschaft ist dieser Spruch ein kraftvolles Statement. Für die persönliche Entwicklung ein charmanter Befehl. Dabei müsste man dem Motto nur einen kurzen Satz hinzufügen, damit sich darin alle wiederfinden können: «Don’t hide your Pride. But you decide.»
*Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar oder eine Glosse zu einem aktuellen Thema, das die LGBTIQ-Community bewegt. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.
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