Coming-out: Es braucht mehr Vorbilder wie Curdin Orlik

Zwar hat sich die Akzeptanz gegenüber Schwulen in den vergangenen Jahren verbessert. Dennoch ist Homosexualität im Sport, in der Schule oder in der Kirche ein Tabu

Curdin Orlik. (Bild: Screenshot via curdinorlik.ch)
Curdin Orlik. (Bild: Screenshot via curdinorlik.ch)

Der Bündner Kranzschwinger Curdin Orlik hat sich als schwul geoutet. Damit ist er ein starkes Vorbild für alle anderen schwulen Spitzensportler, die vor ihrem Coming-out stehen. Aber auch mein ganz persönlicher Held: Er hat das Männlichkeitsbild um eine zusätzliche Facette erweitert, das auch Sportlehrpersonen hilft, ihr Coming-out im Verein oder Verband durchzustehen. Der Samstagskommentar*.

Wohlgemerkt: Curdin Orlik hat sich als aktiver Sportler in einer Sportart geoutet, die allgemein als hart, körperlich und besonders männlich gilt. Das Echo dabei war bisher meistens positiv: Für sein Coming-out erntete der 27-Jährige in seinem Umfeld sowie in den sozialen Netzwerken viel Anerkennung. Auch Stefan Strebel, der neue Technische Leiter des Eidgenössischen Schwingerverbands (ESV), fand in der Aargauer Zeitung klare und ermutigende Worte: «Zur Homosexualität zu stehen, ist für mich heute etwas ganz Normales, das in der Gesellschaft keine Emotionen auslösen sollte. Ich habe Nulltoleranz gegenüber Leuten, die anders denken.»

Ein Versteckspiel, das dich auffrisst Trotz vieler positiver Reaktionen: Seit Donnerstag trübt eine Schmiererei an einer SBB-Lärmschutzwand in Rubigen das Coming-out von Curdin Orlik. Solche Reaktionen verdeutlichen, warum es auch weiterhin Vorbilder wie ihn braucht: Denn Homophobie ist in der Schweiz verbreiteter als angenommen. Solche verletzenden Sprüche waren unter anderem ein Grund, weshalb Curdin Orlik vor seinem Coming-out lange mit sich gerungen hat. Aber auch, weil die sexuelle Orientierung im schulischen, sportlichen, religiösen oder privaten Kontext fehlte (MANNSCHAFT berichtete). Diese Umstände führten einerseits zu einer inneren Zerrissenheit und Verdrängung der eigenen Homosexualität, andererseits zu einem dauerhaften Versteckspiel.

Wie viel Energie und Nerven ein jahrelanges Versteckspiel ohne Coming-out kostet, kenne ich, der diesen Kommentar gerade schreibt, aus eigener Erfahrung: Was tust du als schwuler Tennislehrer, Anfang 20, in der eher konservativen Ostschweiz – wie ich vor 20 Jahren – wenn dich deine Schüler*innen und deren Eltern, aber auch Vereinsmitglieder und Sponsoren fragen, ob du eine Freundin hast oder Familienpläne schmiedest?

Dich outen?

Nein, sondern eine Ausrede erfinden wie «dafür habe ich keine Zeit». Nicht, weil dir dein Schwulsein unangenehm wäre – ich bin glücklich, wie ich bin – sondern weil du negative Konsequenzen für deine berufliche Karriere befürchtest, weil das Schwulsein im Sport praktisch inexistent ist: Wenn sich eine Tennislehrperson als schwul outet, landen die Gedanken einiger Leute rasch in der Ecke der Pädophilie. Auch die Gefahr, dass ehemals begeisterte Schüler*innen dann zu anderen Trainer*innen abwandern, besteht. Und im Vergleich zu meinen heterosexuellen Kolleg*innen wird mein Handeln und Verhalten oft einzig aus der Perspektive der sexuellen Orientierung betrachtet, schiefes Anschauen, dumme Sprüche und Tuscheln inklusive.

Akzeptanz durch mehr Sichtbarkeit Auch wenn die Homosexualität in den letzten Jahren an gesellschaftlicher Akzeptanz gewonnen hat, so bleibt sie in bestimmten Gesellschaftsbereichen nach wie vor ein Tabuthema – wie im Sport, in der Schule oder in der Kirche. Und dieses Ignorieren oder Totschweigen der Homosexualität ist für Schwule ebenso schmerzhaft wie ein verletzender Spruch. Wer keine Beachtung findet, fühlt sich ausgeschlossen und minderwertig. Und das frisst die eigene Seele auf. Darum braucht es mehr Held*innen wie Curdin Orlik, die mit ihrem Coming-out aus jedem Gesellschaftsbereich hervortreten und zeigen: «Wir sind Menschen wie ihr auch, auch wenn wir anders lieben.»

Normalität hilft Gibt es einen Weg, damit sich Menschen mit einer nicht-heterosexuellen Orientierung künftig im beruflichen und privaten Umfeld nicht so lange verstecken müssen? Simone Dos Santos, die Geschäftsleiterin der Aids-Hilfe St.Gallen-Appenzell, meint dazu: «Es muss so normal sein, wie die alltägliche Frage: Was hast du gegessen, getrunken oder letzten Samstag im Ausgang gemacht?»

Um eine solche Normalität langfristig entstehen zu lassen, sei es wichtig, weg von der Vermeidungsstrategie und dem Wegschauen zu kommen: «Wenn wir Kindern bereits früh die verschiedenen Lebensweisen als gleichwertige Optionen vermitteln, haben sie als Erwachsene auch keine Vorbehalte gegenüber der Homosexualität.» Das Ganze müsse früh in der Sprache der Pädagog*innen erfolgen – und zwar als wertfreie, emotionslose Information ganz ohne den sexuellen Bezug: «Was hält uns davon ab, eine Sprache zu entwickeln und zu pflegen, in der alle in Ordnung sind? Egal, ob Mami und Mami, Mami und Papi oder Papi und Papi?» Eine solche Sprache würde nämlich auch Kindern aus Regenbogenfamilien signalisieren, dass sie gleichwertig sind und sie vom heutigen Stigma befreien.

Diversität verwirrt doch bloss Kritiker*innen aus konservativen Kreisen führen hier oft das Argument der Frühsexualisierung an: Die Optionsvielfalt würde die Kinder mehr verwirren als ihnen helfen. Simone Dos Santos kennt diese Einwände aus ihren sexualpädagogischen Einsätzen an Schulen oder Elternabenden: «Das ist kein Argument: Je mehr Kompetenzen wir einem Kind im Umgang mit der Diversität, der eigenen Körperlichkeit sowie den eigenen Gefühlen mitgeben, desto besser kann es sich schützen, weil es sich selbst gut kennt und die eigenen Gefühle für sich richtig einordnen kann. Es entwickelt ein freies, unbeschwertes Bewusstsein für den eigenen Körper, aber auch für die eigene Identität. Das macht es später zu einer starken und mündigen Persönlichkeit.»

Ausserdem gehe es bei Kindern nicht um das Zeigen irgendwelcher Sexualpraktiken, sondern primär um die Vielfalt und Gleichwertigkeit von verschiedenen Beziehungsvarianten. Später im klassischen Aufklärungsunterricht kommt die Sexualität hinzu, aber auch hier geht es primär um die Botschaft: «Du bist so ok, wie du bist und liebst. Denn die menschliche Sexualität ist wie das Farbspektrum eines Regenbogens – da gibt es kein Schwarz-Weiss, sondern ganz viele Farben und Nuancen.»

Festgefahrene Rollenbilder Ein weiterer Grund, warum es Schwinger, Fussballer oder Eishockeyspieler schwerhaben, sich zu outen, liegt im nach wie vor herrschenden Männlichkeitsbild: Ein richtiger Mann hat Muskeln, Macht und Moneten. Als rigide Abgrenzung zum Emotionalen und Feinfühligen, was Frauen und Schwulen zugeordnet wird und sie damit beide zur schwachen, weil empfindsamen Bevölkerungsgruppe degradiert.

Solche stereotypen Frauen- und Männerbilder haben nicht nur Tradition, sondern werden täglich in der Erziehung, Kultur oder Arbeitswelt zementiert: Ein Junge muss sportlich sein, darf nicht weinen oder mit Puppen spielen. Ausserdem ist er von Beginn an darauf getrimmt, Höchstleistung zu erbringen und kein Pardon zu kennen – im Sport, in der Schule, im Berufsleben. Ein Mädchen dagegen muss Rosa tragen, darf keine Rabaukin sein oder mit Autos spielen. Später als Frau wird ihr eingetrichtert, dass sie mit ihrem Aussehen mehr erreicht als mit ihrem Können. Ein Blick in die rosafarbenen und blauen Kinderzimmer, in die Werbung oder Zeichentrickfilme genügt: Da wartet die zarte, wunderschöne, aber hilflose Prinzessin immer auf ihren heldenhaften Prinzen, der sie aus den Fängen von Monstern oder bösen Hexen befreit und in sein Königreich führt, wo sie dann glücklich bis an ihr Lebensende mit ihm lebt.

Männlichkeit und ihre Verlustangst Diese Stereotypen und Ungleichheiten sind trotz Emanzipation und Feminismus tief in unserer Gesellschaft verankert – ob in Führungspositionen, in der Gehaltsgestaltung oder eben im Sport. Und das mündet in einem fatalen Männlichkeitsbild, weil es nur Dominanz zulässt und alles Weibliche negiert und abwertet. «Darum ist ein Coming-out eines Spitzensportlers in einer dominanten Sportart für die heterosexuellen Pendants eine grosse Herausforderung», betont Simone Dos Santos, «ein schwuler Spitzensportler konfrontiert sie nämlich mit der eigenen Männlichkeit. Er kann Zweifel oder Ängste wecken, weil sie als Heteros plötzlich zu einem potenziellen Sexualobjekt eines Schwulen werden könnten. Das empfinden sie bedrohlich, weil es sonst in umgekehrter Richtung funktioniert.» Outet sich eine Spitzensportlerin, wirft das meist weniger hohe Wellen: «Lesben bedrohen nämlich nicht die heterosexuelle Männlichkeit, weil sie in Pornos präsent sind und zum Begehren der männlichen Heterosexualität dazugehören», erklärt Simone Dos Santos weiter. Die lesbische Liebe sei darum weniger tabuisiert als die Liebe zwischen zwei Männern.

Wie lassen sich festgefahrene Rollenbilder verändern? «Indem wir in der Öffentlichkeit offene Diskussionen über verschiedene Frauen- und Männerbilder führen. Denn in vielen Kulturen gibt es unreflektierte Männer- und Frauenbilder, auch bei uns. Meist sind diese geprägt von Religionen, wo der Mann über der Frau steht, aber auch vom eigenen Verständnis von Weiblichkeit und Männlichkeit, der persönlichen Erfahrung sowie vom persönlichen Umfeld», erläutert Simone Dos Santos, «wer so aufwächst und nie eine kritische und umfassende Betrachtung der Geschlechterbilder erfährt, kann auch keine Vorstellung von Gleichberechtigung und Diversität entwickeln.»

Selbst die Schwulenszene ist davon nicht gefeit: «Die Werbung verwendet auch bei Schwulen Klischees: Immer lächelt der Six-Pack-Muskelmann in die Kamera. Die Pornos tragen auch dazu bei, weil sie prototypisch aufgebaut sind. Darum ist es wichtig, diverse und positive Männerbilder zu zeigen – ob klein, gross, dick, dünn, mit oder ohne Muskeln, sensibel oder nicht», unterstreicht Simone Dos Santos.

Und es braucht Vorbilder – wie Curdin Orlik – die sich in einem eher stereotypen Umfeld outen und das Männlichkeitsbild um eine zusätzliche Facette erweitern. Damit signalisieren sie, dass ein Mann auch emotional sein darf, ohne dabei als unmännlich zu gelten. «Je mehr wir solche Vorbilder haben, umso eher finden Jungen in ihrer Entwicklung einen liebe- und respektvollen Zugang zu sich, zu ihrer Männlichkeit und damit zur Selbstakzeptanz», resümiert Simone Dos Santos.

*Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar zu einem aktuellen Thema, das die LGBTIQ-Community bewegt. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.

Das könnte dich auch interessieren