«Vor der Transition musste ich mich jeden Sonntag zurückverwandeln»
Angela Matthes ist CEO des Versicherungskonzerns Baloise Life AG – und trans
Donnerstags bis sonntags konnte sie sein, wer sie ist. Doch am Sonntagabend kam ihre «Pumpkin Time», dann musste sich Angela Matthes zurückverwandeln – wie im Cinderella-Märchen, wenn die Kutsche um Mitternacht wieder zum Kürbis wird. Das war vor ihrer Transition. Heute lebt sie glücklich als Frau.
Mit fünfzehn trug ich schulterlanges Haar. Eines Tages – ich sass mit meinem besten Kumpel auf dem Heimweg im Bus – fragte mich ein Kind angesichts meiner fülligen Haar- und fehlenden Bartpracht: «Bist du ein Mädchen oder ein Junge?» Es war Rushhour. Der Bus folglich dicht gefüllt mit Ohren, die bereit zum Lauschangriff waren. Als schwuler, ungeouteter Junge vom Balkan störten mich schon damals stereotype Urteile über Menschen. Entsprechend flapsig fiel meine Antwort aus: «Beides.» Das sorgte zwar für lautes Gelächter im Bus, verwirrte aber das fragende Kind, weil es nur das binäre Geschlechtersystem kannte.
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Mit dieser persönlichen Geschichte zur Geschlechtsidentität mache ich mich auf nach Balzers in Liechtenstein. Dort bin ich mit Angela Matthes verabredet, CEO der Baloise Life AG. Zum Einstieg ins Gespräch erzähle ich ihr von meinem Erlebnis und möchte wissen, wie sie in einer solchen Situation reagiert hätte: «Ein solches Erlebnis habe ich zwar nicht gehabt, wohl aber mit meiner Haarlänge experimentiert. Denn mit vier Jahren merkte ich, dass ich transident bin. Deswegen schob ich als Kind und Jugendliche den Coiffure-Termin so weit hinaus wie möglich. Bis meine Mutter sagte, ich sähe aus wie ein Mädchen.»
Im Inneren war sie es auch und wollte lieber Dinge tun, die Mädchen tun. «Zum Beispiel mit Mädchen spielen oder auch mal ein Röckchen tragen.» Doch die Standards damals waren klar: Es gibt nur Frauen und Männer, nichts dazwischen.
Identitätskrise in der Pubertät «Mit fünfzehneinhalb begann ich meine Ausbildung zum Kaufmann. Weil ich noch nicht im Stimmbruch war, habe ich mich innerlich immer gefreut, wenn mich die Leute beim Telefonieren als «Fräulein Matthes» angesprochen haben.» Korrigiert habe sie die Leute nie. Denn sie wollte den kleinen Moment der Illusion nicht missen.
Mitten in der Ausbildung kam die Pubertät und mit ihr Angelas Identitätskrise: «Da wurde mir bewusst, wie ich mich fühle und wie ich gern sein möchte. Aber mein Körper entwickelte sich in eine andere Richtung.» Mit siebzehn sprach sie mit ihren Eltern. Das war Mitte der achtziger Jahre. Ein Gespräch mit einer Psychiaterin folgte. «Ich erlebte eine intensive Dosis aus Angst, Ablehnung und Aggressionen. Die Reaktion meines Vaters war: Was tust du uns an? Meine Mutter reagierte eher besorgt: Die soziale Ausgrenzung und die damit verbundene Arbeitslosigkeit waren ihre grössten Ängste.»
Damals gab es noch kein Internet, Informationen zu Transidentität fehlten. So auch öffentlich sichtbare trans Personen, die über ihr Sein, das nicht sein darf, berichteten. «Nach einem halben Jahr habe ich diese Episode als «eine Phase» zurückgenommen und mich bemüht, nach aussen hin ein «normales» Leben als Mann zu führen.»
Es war ein echtes Ausbrechen aus meiner Komfortzone.
Das Doppelleben Nach der Ausbildung zog Angela von zu Hause aus – weg von Basel in die eigenen vier Wände: «Hier konnte ich Angela sein und musste keine Angst haben, in einem Rock gesehen zu werden.» Aus der Erfahrung mit den Eltern hatte sie mitgenommen, sie wäre «nicht normal» und liefe Gefahr, irgendwann mal wegen ihres Seins ausgegrenzt zu werden und den Job zu verlieren. Was auch heute noch zutrifft: Laut einer Studie von Transgender Network Switzerland aus dem Jahre 2014 ist jede fünfte trans Person von Arbeitslosigkeit betroffen – der gesamtgesellschaftliche Durchschnitt ist vier Mal tiefer.
Um der Stigmatisierung entgegenzuwirken, stürzte sich Angela in die Arbeit. «Zum einen war das ein Ausweich- bzw. Verdrängungsmechanismus. Zum anderen aber auch eine grosse Motivation, weil ich im Job viel Bestätigung und Wertschätzung erfuhr, was zu neuen Aufgaben und mehr Führungsverantwortung führte.»
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Das war ihr Leben draussen. Drinnen in den eigenen vier Wänden lebte sie immer als Angela: «Ich konnte daheim meiner Gefühlswelt freien Lauf lassen. Nach draussen traute ich mich nicht als Frau, höchstens mal nachts um eins. Aber ich hatte immer Angst, jemand könnte mich erkennen.»
Und das Beziehungsleben? «Um die dreissig herum hatte ich bereits viel erreicht: Ich war beruflich erfolgreich und hatte ein paar gute Freunde. Allerdings noch kein Beziehungsleben. Dabei wollte ich einfach «normal» sein und eine «normale» Beziehung haben.» Ein weiterer Besuch bei einer anderen Psychiaterin stand an: «Ich wollte die inneren Gefühle so nehmen, dass sie mich nicht mehr daran hindern, eine Beziehung zu führen.» Die Psychiaterin habe ihr dann geholfen, diese innere Gefühlswelt zu akzeptieren: «Sie ist ein Teil von mir und auch nicht schlimm.» Im Gegenteil: Rückblickend betrachtet ermöglichten ihr die beiden Identitäten eine ganz andere Führungserfahrung.
«Zwei Jahre später lernte ich als Mann eine Frau in den Ferien kennen. Wir verstanden uns auf der persönlichen Ebene gut und hatten gemeinsame Interessen.» Doch sobald es um Intimitäten ging, konnte Angela die geschlechterspezifische Rolle nicht einnehmen, sodass die Beziehung zu Ende ging. «Dies war für mich der Moment, den nächsten Schritt zu gehen.»
«Jetzt will ich einfach mal raus» Angela machte sich auf nach New York. Vor der Anreise hatte sie das dortige Transgender Netzwerk kontaktiert, um sich mit zwei trans Frauen zu verabreden. Es sollte ein echtes Durchbrechen ihrer Komfortzone werden: «Ich war zu dem Zeitpunkt schon vierzig. Wenn du immer etwas im Versteckten und immer mit einem schlechten Gewissen machst, dann braucht es viel Kraft, sich aus der Komfortzone zu bewegen. Irgendwann mal kam der Punkt: Jetzt will ich einfach mal raus.» Über zwei Stunden dauerte es denn auch, bis sich Angela aus dem Hotel wagte und sich den Menschen zeigte, wie sie wirklich ist.
Ich will wissen, wie ihre ersten Eindrücke waren, nachdem sie sich überwunden hatte, das Hotel zu verlassen. Sie gibt mir nicht einfach eine Antwort, sondern lässt mich ihren damaligen Gänsehautmoment direkt spüren: «Es war ein Wahnsinnsgefühl! Ich hatte Augenkontakt und wurde wahrgenommen. Niemand schaute mich komisch an. Ich spürte keine Angst im Sinne von: Achtung, da kommt ein Mann in Frauenkleidern.»
An jenem Abend lief Angela stundenlang draussen herum. Sie genoss es, als Frau unter Menschen zu sein. Allerdings traute sie sich noch nicht, in einen Laden zu gehen oder mit Menschen zu reden. «Erst am nächsten Abend habe ich mich mit den beiden trans Frauen getroffen. Danach war es so, als hättest du einen Flaschengeist befreit: Mit jedem Schritt, den ich mehr aus mir herausging, fühlte es sich angenehmer und vertrauter an.» Noch im selben Jahr reiste Angela nochmals nach New York.
Der Respekt vor der Reaktion des Arbeitgebers war sehr gross.
«Pumpkin Time am Sonntag» Von da an machte Angela fast jeden Monat eine Städtereise. Denn in der Schweiz hatte sie zu grosse Angst, dass sie erkannt wird oder ihr Arbeitgeber davon erfährt: Die Angst vor einem Jobverlust oder vor der sozialen Ausgrenzung hatte sich bei ihr fest eingebrannt. Seit ihrer steilen Karriere noch mehr.
Darum versuchte sie, eine Art Kompromiss zwischen den beiden Identitäten zu finden: «Vielleicht reicht das bis zur Pensionierung. Vielleicht kann ich von Donnerstag bis Sonntag meine weibliche Seite ausleben, riskiere dafür aber nicht meinen Job.» Gleichzeitig kontaktierte sie Menschen, die sie auf ihren Reisen und in Sprachkursen kennenlernte oder schon kannte, mit ihrer neuen Identität, und baute sich so ein Sozialleben als Angela auf. Auch verlor sie ihre Angst, in die Läden zu gehen und mit Menschen zu reden. «Meine Persönlichkeit konnte sich langsam entfalten, ich wurde immer mutiger.»
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Sobald jedoch der Sonntagabend und somit die Heimkehr näher rückte, stand ihre Rückverwandlung an: «Sonntagabends kam meine Pumpkin Time. Wie bei Cinderella, wenn sich die Kutsche um Mitternacht zurück in den Kürbis verwandelt.» Folglich war ihre Rückreise von Trauer überschattet: «Ich freute mich immer aufs Wochenende. Denn als Angela fühlte ich mich einfach super. Auf dem Rückflug fiel es mir schwer, wieder ein Mann zu sein.»
Zeit für die Transition Wieder zurück in der Heimat tauchten im privaten und beruflichen Umfeld Fragen auf: «Du bist in ganz Europa unterwegs und führst ein tolles Leben: Was hast du denn in Berlin, Hamburg . . . alles so gemacht?» Sie musste ihre Erlebnisse und Aktivitäten geschlechtsneutral erzählen oder eine Cover Story für die männliche Identität erfinden. «Es fühlte sich immer schlechter an, weil ich den Leuten nicht alles sagen konnte bzw. Geschichten erfinden musste, um das Bild der Normalität zu wahren.»
So kam ihr Entschluss, mit ihrer Transition nicht bis zur Pensionierung zu warten. 2013 trat sie ihre neue Position als CEO der Baloise Life (Liechtenstein) AG. Parallel dazu begann sie mit der Ausbildung zum Executive Master in Consulting and Coaching of Change bei der INSEAD Business School. Die Ausbildung brachte ihr gleich zwei Vorteile: Ein weiteres Standbein, sollte ihre Transition beim Arbeitgeber nicht gut ankommen, sowie die Methodik, ihre Transition bestmöglich im Betrieb vorzubereiten und umzusetzen. Denn der Respekt vor der Reaktion des Arbeitgebers war immer noch sehr gross.
Auch holte sie sich Unterstützung beim Transgender Network Switzerland (TGNS): «Ich wollte eine Liste mit Psychiater*innen, die Transitionen bereits begleitet haben.» Überdies hat sie die INSEAD-Professor*innen von Beginn an ins Boot geholt. Zwar begann sie die Ausbildung als Mann, konnte dann aber während des Programms als Angela in die Klasse kommen: «Meine internationalen Kommiliton*innen erlebten meine Transition als Highlight. Selbst Klassenkamerad*innen aus muslimisch geprägten Ländern empfanden meine Entfaltung nach der Transition einfach bereichernd.»
Öffnung vor dem Arbeitgeber Ihre Transition beim Arbeitgeber hatte sie akribisch vorbereitet: «Zunächst informierte ich den HR-Chef, den Group CEO und Verwaltungsratspräsidenten, dann meine Vorgesetzten in Luxemburg. Zum einen wollte ich ihnen persönlich erklären, warum meine Veränderung nötig ist; zum anderen ihnen auch eine Stimme zur Mitgestaltung geben.»
Rede nicht um den heissen Brei. Sag, worum es geht.
Der Group CEO, den sie zum damaligen Zeitpunkt schon länger gut kannte, benötigte keine Einleitungen oder Erklärungen: «Rede nicht um den heissen Brei. Sag, worum es geht.» Als Angela direkt zum Punkt kam, lehnte er sich in seinem Stuhl zurück, ehe er ihr antwortete: «Danke für dein Vertrauen, das du mir und der Baloise entgegenbringst. Du wirst sehen: Du wirst ganz viel Unterstützung vom Unternehmen bekommen – von mir hast du sie sowieso.» (Ähnlich positiv beschreibt Tessa Ganserer ihr trans Coming-out – MANNSCHAFT berichtete).
Der Rückhalt durch den Arbeitgeber erleichterte den ganzen späteren Prozess, bei dem Angela das persönliche Gespräch mit allen Mitarbeiter*innen suchte, die mit ihr zu tun hatten: «Ich wollte jeder Person meine Transidentität persönlich anvertrauen, damit mir alle direkt Fragen stellen oder Unsicherheiten mitteilen konnten. Denn Ablehnungen kommen oft aufgrund mangelnder Informationen.»
Am Ende waren es 150 Gespräche, die auf der zwischenmenschlichen Ebene eine ganz neue Qualität hervorbrachten. «Weil ich mich ihnen geöffnet und verletzlich gezeigt habe, haben auch sie mir sehr persönliche Dinge anvertraut, von denen sie mir sonst nie erzählt hätten.» Ferner war es Angela wichtig, dass die Mitarbeitenden den Zeitpunkt für die Transition selbst festlegten: «Ich wollte allen die nötige Zeit geben, sich damit zu befassen und den Veränderungsprozess selbst mitzugehen.» Sie erfuhr von allen Unterstützung – schliesslich auch von Menschen, die in einem eher konservativen Umfeld aufgewachsen waren und anfänglich noch Mühe bekundet hatten. «Ich habe die Offenheit, dass jemand damit nicht umgehen kann, respektiert. Denn jemanden dazu zu zwingen, es verstehen zu müssen, führt nicht zu gegenseitigem Verständnis.»
Mitte August 2014 war es dann soweit: Ihr bisheriges Ich lud zur Abschiedsparty im Betrieb ein, verschenkte dabei all seine Krawatten und verabschiedete sich von allen. Gleichzeitig stand das letzte Modul der Ausbildung an, bevor Angela dann Anfang September in den Betrieb zurückkehrte.
Ein Maître de Cabine sorgt für Herzklopfen Zum Schluss des Gesprächs möchte ich von Angela wissen, ob es da jemanden in ihrem Leben gibt: «Derzeit bin ich nicht in einer Beziehung. Es ist schwierig für mich, weil ich nicht nur als Frau leben, sondern auch über meine Transition sprechen möchte. Da gab es schon zwei bis drei Versuche. Aber sobald ich erwähne, dass ich nicht mein ganzes Leben so gelebt habe, ziehen sich die Männer zurück.»
Männer? Ich scrolle zurück zu meinen Notizen vom Anfang: Vor der Transition war Angela mit einer Frau zusammen. «Ja, das stimmt. Ich habe für sie auch Gefühle gehabt. Selbst im Moment der Transition dachte ich mir, dass ich eher lesbisch sein werde, weil ich davor auch eher in Richtung Frauen geschaut habe.»
Nach der Transition kam es aber anders, und zwar auf einer Rückreise von Prag: «Weil es so günstig war, habe ich mir für den Rückflug ein Upgrade in die Business Class gegönnt. Dort habe ich dann mit dem Maître de Cabine geplaudert. Und Herzklopfen gehabt. Und auch lange nach dem Flug an ihn gedacht. Das hat mich zum Nachdenken gebracht. Darüber, worauf ich eigentlich stehe.» Zum Zeitpunkt der Transition hatte sie sich noch nicht für eine Geschlechtsangleichung entschieden. Das Erlebnis mit diesem Mann brachte ihr indes Klarheit: «Ich stehe auch auf Männer. Und wenn ich mit einem anderen Menschen intim werde, dann möchte ich dies als Frau. Aber es wird einen Partner brauchen, der mit seiner eigenen sexuellen wie Geschlechtsidentität im Reinen ist und mit meiner Geschichte umgehen kann.»
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Neues Kapitel Manchmal erscheinen uns Hindernisse im Leben unüberwindbar. Besonders dann, wenn wir uns jemandem anvertrauen und dadurch verletzlich machen. «Das Verlassen der Komfortzone hat mir gezeigt, wie viel es zu meiner Weiterentwicklung beiträgt – auch in anderen Lebensbereichen.» Dies sei für alle wichtig, die im Leben vorwärtskommen möchten: «Wer dazu bereit ist, immer wieder neue Erfahrungswerte und Sichtweisen zu gewinnen, kann persönlich wachsen.»
Bewiesen hat das Angela Matthes in ihrem Leben nun mehrfach – ob mit ihrer Transition und ihrem Umgang damit oder mit ihrem beeindruckenden Werdegang: Neben ihrer Tätigkeit als CEO war sie 2019 gleich zweimal beim Forbes Women’s Summit als Rednerin zu Gast – einmal in Wien, einmal in Zürich. Nach 2018 und 2019 hat sie das Magazin Women in Business zum dritten Mal in Folge in die Top 100 Frauen aus Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Kultur und digitaler Welt gewählt. «Ich habe zwar schon viel erreicht. Das heisst aber nicht, dass ich mich auf den Lorbeeren ausruhe.» Denn Angela Matthes verlässt demnächst wieder ihre Komfortzone: «Nach 37 Jahren endet dieses Jahr mein Engagement bei der Baloise.» Wohin es sie zieht, erfahre ich nicht: «Ich habe da die eine oder andere Idee.»
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