2022 – Krise der Männlichkeit, Kampf für Freiheit

Unser Autor blickt zurück und nach vorn

Foto: Delia Giandeini/Unsplash
Foto: Delia Giandeini/Unsplash

Wieder geht ein Jahr zu Ende. Es war kein gutes, meint unser Kommentator*, auch nicht für Queers. Er hofft auf Besserung 2023.

Gewöhnlich, schreibe ich hier einmal im Monat einen Text, betone ich den Fortschritt: Wir leben nicht mehr wie in jener Zeit, als ich jung war. Schwules, Lesbisches, Trans – das war Anfang der siebziger Jahre nicht mehr verboten, aber für männliche Homosexualität gab es einen Sonderparagraphen, insgesamt hatten wir die Klappe zu halten und uns nicht öffentlich zu zeigen. Sittlichkeitgsgesetze hegten uns ein, Diskretion war das Gebot: Unsagbarkeit der Preis. Das hat krank gemacht, seelisch krank. Wir waren belastet: Das, was wir sind, liebes- und begehrensfähig dem eigenen Geschlecht gegenüber, durfte eigentlich nicht sein, und wenn, dann musste geschwiegen werden.

Das hat sich geändert, nicht-heterosexuelle Lebensformen sind zwar nicht so banal, nur mit beifälligem Desinteresse versehen, aber sie sind möglich, in westlichen Ländern, die über einen liberalen Rechtsstaat verfügen, besser: ihn sich erkämpft haben, zwar nur, aber immerhin. Die Liste der Länder, in denen wir jedoch mit dem Tode bedroht werden, ist lang. In Indonesien ist dieses Jahr sogar ausserehelicher Sex verboten worden (MANNSCHAFT berichtete), dank des immer tiefer werdenden Einflusses eines radikalen Islam dort – und da homosexuelle Menschen dort nicht heiraten dürfen, ist Sexuelles schwuler oder lesbischer Art dort eben jetzt verboten. In Iran sind während der Kopftuch-Aufstände auch lesbische Frauen inhaftiert worden, sie sind hingerichtet worden oder es droht ihnen, gehängt zu werden (MANNSCHAFT berichtete).

Dieses Jahr war für unsere Sache – hier kann sich jetzt jeder denken, was sie oder er oder es möchte – ein beklagenswertes. Indonesien, Iran … Oder Russland. Das Putin-Regime hat mit seinen Abgeordneten ein Gesetz durchgewunken, demzufolge bis auf die schiere Existenz (von Schwulen und Lesben) alles unter Strafe steht, was unter dem Zeichen des Regenbogens versammelt ist (MANNSCHAFT berichtete). Wer sagt: Tschaikowsky finde ich toll – macht sich verdächtig. Der in Bielefeld arbeitende Historiker Alexey Tikhomirov hat kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung dazu einen erhellenden Beitrag verfasst. Von einer Krise der Männlichkeit in Russland sprach er, darüber, dass soldatische Ideale im postsowjetischen Russland wie eine Karikatur gelebt werden, mit vieltausendfach tödlichen Folgen auf den Schlachtfeldern, aber auch im Alltag.



Krise der Männlichkeit – dieser Befund muss allen Gesellschaften angeheftet werden, in denen Männlichkeit wie Kraft und Protz definiert werden, in denen Männer sich wie Krieger, also Soldaten zu verstehen haben. In Russland ist dies aktuell besonders gewärtig – zumal das Land, das dessen Truppen seit dem 24. Februar überfällt, in seinen militärischen Reihen auch deshalb abwehrbereit ist, weil dort, in der Ukraine, «Einhörner» mitwirken (MANNSCHAFT berichtete): LGBTIQ-Menschen, die ausdrücklich willkommen geheissen werden, weil sie als schwule oder lesbische Soldaten zur nationalen Einheit zählen, Präsident Selenski hat das ausdrücklich bestätigt. Wer jetzt «queeres Kanonenfutter» sagt, hat keine Ahnung: Militärs, die die Freiheit verteidigen, aber von queeren Aspekten nichts wissen wollen, sind keine erfolgreichen.

Wie es um den Kampf für Freiheit bestellt sein wird im kommenden Jahr: Das können wir nicht wissen. In immer mehr Ländern sind wir öffentlich präsent, in genau diesen Ländern aber, in den USA beispielsweise, auch in Deutschland, ist die Bereitschaft, Gewalt gegen unsereins auszuüben, nicht weniger geworden. Klar: Homo- und transphobe Angreifer wissen, dass sie das, was sie an Hass in sich tragen, nur tragisch auf sie selbst verweist, dass der Hass nicht statthaft ist – sie fühlen sich nicht mehr selbstverständlich. Aber der Hass ist vielerorts rührig, er ist, wenn auch nicht in der Mehrheit, da, er wirkt sich aus, er macht uns Angst, und das zurecht.

Ich möchte nicht entmutigen. Die Welt ist besser geworden, und sie wird es weiter. Die Welt sich nur als apokalyptische Konstruktion vorzustellen drückt jedes Gemüt, das eigene vor allem. Weihnachten, das mit oder ohne Christliches gefeiert werden kann, ist ein Fest der Familien. Unserer Familien, we are family – in gewisser Hinsicht. Eine bessere, weniger homo- und transphobe Welt ins Werk zu setzen: Das lohnt auch 2023. Frohe Weihnachten allen!



*Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar zu einem aktuellen LGBTIQ-Thema. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.

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